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Lehrmethode als Sündenbock?

Seit zehn Jahren bringt Paula Schröter Kindern Lesen und Schreiben bei. Ihr Konzept steht in der Kritik – zu Unrecht, sagt sie.

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© René Meinig

Von Nadja Laske

ICH UNTERRICHTE „LESEN DURCH SCHREIBEN“. UND ICH MACHE DAS GUT! Mit diesen Worten endet ein Beitrag, den eine Dresdner Lehrerin im sozialen Netzwerk Facebook veröffentlicht hat. Aus den Zeilen, die ihrem Großdruck mit Nachdruck vorausgehen, spricht große Sorge.

Mithilfe einer Buchstabentabelle erschließen sich die Schüler ihre ersten verschriftlichten Worte. Die Methode „Lesen durch Schreiben“, kurz LdS, ist auch unter dem Begriff „Schweizer Modell“ bekannt.
Mithilfe einer Buchstabentabelle erschließen sich die Schüler ihre ersten verschriftlichten Worte. Die Methode „Lesen durch Schreiben“, kurz LdS, ist auch unter dem Begriff „Schweizer Modell“ bekannt. © dpa

Seit zehn Jahren arbeitet Paula Schröter als Grundschullehrerin. Insgesamt 75 Kindern hat sie schon Schreiben und Lesen beigebracht – mit einer Methode, die momentan schwer in der Kritik steht. Nachdem die Universität Bonn in einer Studie 3 000 Grundschüler auf ihre Kenntnisse im Lesen und Schreiben überprüft hat, sind Lehrer und Eltern gleichermaßen in Aufruhr. Die Fibel-Methode sei deutlich erfolgreicher, als das Lesen durch Schreiben zu erlernen, so das Fazit der Erhebung. Als dritte Möglichkeit untersuchten die Wissenschaftler die sogenannte Rechtschreibwerkstatt. Auch ihr Erfolg blieb weit hinter dem des Unterrichts mit der Fibel zurück. Der Deutsche Lehrerverband fordert inzwischen das Verbot von „Lesen durch Schreiben“, wonach rund drei Prozent aller Schüler lernen. Als Paula Schröter davon erfuhr, musste sie sich zu Wort melden.

„Hier soll eine Lehrmethode als Sündenbock für Veränderungen in der Gesellschaft, in der Schulpolitik und in unserem Lebensalltag herhalten“, sagt die 38-Jährige. Doch aus ihrer Sicht sind ganz andere Umstände daran schuld, wenn Schüler heutzutage keine gute Orthografie und Grammatik beherrschen. Schon während ihres Lehramtsstudiums in Dresden hat sich Paula Schröter für die Methode „Lesen durch Schreiben“ entschieden und zwei Lehrgänge beim Begründer dieses Konzeptes, dem Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen, absolviert.

Erfahrungen von Dresdner Lehrern

Olaf Böttger, Schulleiter 15. Grundschule
Alle unsere vier ersten Klassen, lernen nach der Fibel-Methode mit Anlauttabelle. Das haben die Lehrer so entschieden und machen gute Erfahrungen damit, auch im kollegialen Austausch miteinander.

Damaris Linge, Schulleiterin Laborschule
Wir unterrichten nach der Methode Lesen durch Schreiben, prüfen aber sehr genau, wie jedes einzelne Kind darauf anspricht. Die Orientierung am Kind und das Lehrerengagement sind das A und O.

Heike Gerhardt, Schulleiterin Christliche Schule
Wir nutzen Lehrmaterial, das beide Methoden miteinander verbindet. Die Kinder haben Gelegenheit, frei zu schreiben, werden aber auch an das Erfassen von Silben und ganzen Wörtern herangeführt.

Silke Nebe, Schulleiterin Melli-Beese-Grundschule
Die Fibel wird allen Kindern gerecht, egal, mit welchen Voraussetzungen sie in die Schule kommen, und lässt sich zur individuellen Förderung ergänzen. Zu große Klassen tun keiner Methode gut.

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„Als ich in die Schule kam, konnte ich schon lesen und schreiben und habe ein wenig unter der Fibel gelitten“, erzählt sie. Zu Hause las die Tochter einer Lehrerin bereits erste kleine Geschichten, in der Schule stand in ihrem Lehrbuch „Mimi am Zaun“, wobei das Wort Zaun durch ein Symbolbild ersetzt war. Auch „Mia bei Oma“ empfand sie nicht gerade als Herausforderung. „Außerdem spricht so kein Mensch“, sagt die Pädagogin.

Unterwegs auf dem rasenden Roland

Die erste Begegnung ihrer Erstklässler mit der verschriftlichten Sprache beschreibt sie wie folgt: Das Kind sucht sich ein Wort, das es schreiben möchte, aus oder lässt sich von Bildern inspirieren. Dann spricht es das Wort deutlich aus und achtet darauf, welche Laute dabei aus dem Mund kommen. Dabei helfe ich als Lehrerin natürlich.“ In einer sogenannten Buchstabentabelle suche das Kind nach Abbildungen von Tieren, Pflanzen, Gegenständen, Lebensmitteln oder Ähnlichem, die mit genau den Lauten beginnen, die in dem gesuchten Wort vorkommen, und reiht die entsprechenden Buchstaben aneinander. Ziel ist es, nicht in erster Linie zu schreiben, sondern über das Schreiben das Lesen zu lernen. „Schon der Höhlenmensch hat zuerst ein Zeichen an der Steinwand hinterlassen, bevor es ein zweiter deuten konnte“, sagt Paula Schröter. Je mehr ein Kind schreibt, diese Erfahrung macht die Lehrerin in ihrer täglichen Arbeit, desto schneller prägt es sich das Schriftzeichen zum Laut ein und erlernt das Lesen. Ab dann öffnet sich ihm die Welt – dem einen Kind schneller, dem anderen langsamer, je nach Begabung. Davon ist Paula Schröter überzeugt.

Doch auch andere Einflüsse als die ganz individuellen Parameter entscheiden darüber, ob ein Kind gut genug lesen und schreiben kann. „Die Methode Lesen durch Schreiben ist extrem arbeitsintensiv“, sagt Paula Schröter. Auf ihrem „rasenden Roland“, einem Hocker auf Rollen, sause sie zwischen den Schulbänken des Klassenzimmers hin und her, um jeden ihrer 27 Schüler genau im Blick zu haben. Kommt ein Kind nicht weiter, hilft sie, erklärt noch einmal, übt mit ihm. Wenn Lesen durch Schreiben erfolgreich sein soll, bedarf es stark differenzierten Unterrichts. „Aber ich kann doch aus Kindern, die inzwischen mit einem Entwicklungsunterschied von bis zu vier Jahren in die erste Klasse kommen, keine homogene Menge machen“, sagt Paula Schröter.

Damit ist sie bei einer weiteren Erklärung für Schreibdefizite: „Die Kinder schreiben außerhalb des Unterrichts kaum noch.“ Keine Briefe an Ferienlagerfreunde, kaum noch Urlaubskarten an die Oma, keine Tagebücher, keine Poesiealben. „Wenn ich mal von einem Schüler ein Freundschaftsbuch bekomme, um mich einzutragen, genügt hinter Lieblingsfarbe und Lieblingstier je ein Wort.“ Manchmal müsse man sogar nur Kreuzchen setzen. Das Freizeitprogramm vieler Kinder drehe sich zu oft um Medien wie Fernseher, Handy oder Tablet. Vorgelesen bekommen und selbst lesen verschwinde aus dem Alltag.

Zu wenig Zeit für Rechtschreibung

Schule kann diesen Mangel nicht ausreichend auffangen. „Im Jahr 1983 hatten Viertklässler an ostdeutschen Grundschulen 14 Deutschstunden pro Woche. In diesem Jahr sind es nur noch neun und ab 2019 acht Deutschstunden in jeder vierten Klasse. Zu Deutsch zählen Sprechen, Lesen, Grammatik und der Umgang mit Medien. Für die Rechtschreibung bleiben nur 40 Unterrichtsstunden im Jahr.“

Dass Lehrer, die Lesen durch Schreiben unterrichten, generell nicht auf korrekte Schreibweisen hinweisen, kann Paula Schröter nicht bestätigen. „Spätestens in Klassenstufe zwei ist das Lesenlernen abgeschlossen. Ab dann widmen wir uns intensiv der Orthografie.“ Es stimme auch nicht, dass das Konzept verbiete, Kinder auf Fehler aufmerksam zu machen, weil sie das frustriere. „Wenn ein Schüler ölf, Tüsch und Taucha schreibt, ist das falsch und wird auch sofort berichtigt.“ Lernen sei auch mal frustrierend, gibt Paula Schröter zu. Vor allem aber solle Lernen Freude machen. Das schafft Lesen durch Schreiben aus ihrer Sicht. „Und Freude am Lernen hat nichts mit Spaßgesellschaft zu tun!“