Juden sind auch nur Deutsche

Judith schaut rüber auf die andere Straßenseite. Der Verkehr rauscht vorbei, der Wind peitscht in ihr Gesicht. "Da steht ‚Fuck Nazis‘", sagt sie und zeigt auf einen heruntergelassenen Rollladen in Leipzig-Reudnitz. Es kann nur wenige Sekunden gedauert haben, dieses "FCK NZS" in schwarzer Schrift dort hinzukritzeln. Es wirkt so lieblos wie die restlichen Graffiti an der Hauswand.
"Ich find’s gut, dass Leute dagegen sind", sagt sie. "Aber", Judith atmet laut aus, wägt ihre Worte, "ich find’s nicht richtig, das irgendwo hinzusprühen. Find ich absolut nicht cool!" Das sei nicht der richtige Weg – gerade, wenn Menschen Arbeit in die Häuser gesteckt haben. "Man kann das auch anders lösen."
Judith versucht genau das. Sie ist eine von 50 Auszubildenden, die bei "Meet a Jew" mitmachen. Das Begegnungsprojekt, initiiert vom Zentralrat der Juden, wurde kurz vor der Pandemie gestartet. Die Idee: Jüdinnen und Juden gehen in Schulen und erzählen vom jüdischen Leben. "Wenn sie das Wort Jude oder jüdisch hören, verbinden viele damit den Holocaust oder Schlagzeilen zu Antisemitismus und Israel", sagt Mascha Schmerling. Sie koordiniert das Projekt. "Aber die wenigsten haben einen Bezug zum aktuellen jüdischen Leben." 400 Juden machen bisher deutschlandweit mit. Gleichaltrige sprechen zu Gleichaltrigen. 230 Begegnungen habe es im Jahr 2020 gegeben, 540 im Jahr darauf.

Judith war 16 Jahre alt, als sie erstmals selbst Antisemitismus erfahren hat. Personen in ihrem Umfeld "haben hinter meinem Rücken antisemitische Aussagen über mich getätigt". Von "Hakennase" war die Rede, jemand sagte "Gaskammer". "Ich habe sie dann zur Rede gestellt und ihnen gezeigt, was das mit einem Menschen macht", sagt Judith. "Ich denke, dass sie es mittlerweile halbwegs verstanden haben." Zu sehr will sie nicht ins Detail gehen. "Ich möchte die Personen trotzdem schützen. Selbst, wenn sie solche Aussagen gemacht haben, heißt das ja nicht, dass sie schlechte Menschen sind."
Vor einem Jahr war das. Der Vorfall habe sie motiviert, sich zu engagieren.
"Gerade in Sachsen ist das wichtig."
189 antisemitische Straftaten registrierte die Polizei in Sachsen im vergangenen Jahr. So steht es in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken-Landtagsabgeordneten Kerstin Köditz. Tendenz: steigend. 2020 waren es 173, ein Jahr zuvor 156. Dunkelziffer: hoch.
Aus Sicherheitsgründen hat sich Judith für diesen Text einen anderen Namen ausgesucht. Auch ihr genauer Wohnort soll privat bleiben. Nur so viel: Sie lebt in einer größeren Stadt in Sachsen. An einem regnerischen Januartag ist sie auf dem Weg zum Humboldt-Gymnasium in Leipzig, wo eine Schulklasse sie eingeladen hat. Den verzierten Schal hat sie sich eng um den Hals gewickelt, die graue Jeansjacke lässt sie offen.
Training für junge Juden
Religiös sei sie nicht. Das sagt Judith gleich zu Beginn. "Ich glaube nicht an das, was die Juden glauben." Jüdisch sein, ohne zu glauben, bedeute für sie: "die Kultur, die Gesellschaft, die Gemeinschaft, Essen, Menschen – es ist so vieles." Ihre Stimme hebt sich. "Dinge, die man mit den Sinnen erfahren kann: sehen, hören, spüren."
Sie habe lange nicht gewusst, dass Jüdisch-Sein eine Religion ist. Erst im Religionsunterricht sei ihr bewusst geworden, dass sie jüdisch ist. "Ich habe mir dann mehr Gedanken darüber gemacht, wer ich bin und was das für mich persönlich bedeutet." Zum Beispiel, ob sie Traditionen ausleben möchte oder nicht. Geschenke wolle sie zu Weihnachten nicht mehr bekommen, sagt Judith. "Das Chanukka-Fest und andere Bräuche bedeuten für mich genauso wenig. Deshalb habe ich mich dagegen entschieden." Gefeiert wird zu Silvester: "Wir machen das zu unserem eigenen Fest und vermischen da alle Kulturen. Da gibt es deutsches, russisches, jüdisches Essen."
Die Eltern von Judith kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Sprechen will sie darüber nicht. "Das ist viel zu kompliziert", sagt sie. Was eigentlich dahintersteckt: zu privat. Der Krieg in der Ukraine zählt auch dazu. Wenn man ihr zusichert, sie damit nicht zu zitieren, sprudeln die Worte allerdings nur so aus ihr. Die 17-Jährige weiß, worüber sie öffentlich sprechen will – und worüber nicht.
Nur wenige Juden in Sachsen
Juden unter 20 Jahren durchlaufen beim Projekt "Meet a Jew" ein Training, vier Wochenenden lang. Zuerst feiern sie am Freitag Schabbat, den jüdischen Ruhetag. Dann gibt es Workshops und Trainings. Von jüdischen Feiertagen und der Staatsgründung Israels über Übungen zur Kommunikation bis hin zum queeren Judentum in Europa. Die Workshops sollen zum Nachdenken anregen: Was bedeutet das Judentum für mich? "Für die Jüngeren ist es wichtig zu erkunden, wofür sie eigentlich stehen, bevor sie Vorträge halten", sagt Projektkoordinatorin Schmerling.
Judith hat zum Beispiel gelernt, wie sie das Jüdisch-Sein erklären kann. Sie sage jetzt nicht mehr "Ich erzähle euch jetzt mal von den Kaschrut-Gesetzen", sondern: "Ich esse keine Cheeseburger, weil …"
An der Humboldt-Schule stehen schon Jene und Eli. Auch sie heißen eigentlich anders. Weil Judith die Ausbildung von "Meet a Jew" noch durchläuft, sind die beiden dabei, sie haben schon Routine. Jene hat rund 20 Begegnungen hinter sich, Eli fünf. Die beiden kommen aus anderen Bundesländern. Vor dem Sekretariat wundert sich Jene, warum in Leipzig ebenso wie in ganz Sachsen so wenige Juden leben.
1933 lebten noch rund 20.500 Juden im Freistaat, davon 11.600 in Leipzig. Nach Kriegsende waren es nur noch knapp 20, sagt Benjamin Winkler. Er setzt sich bei der Amadeu-Antonio-Stiftung mit Antisemitismus auseinander. Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich Ost- wie Westdeutschland um Wiedergutmachung. Man strebte unter anderem Beziehungen mit dem neuen Staat Israel an. Jedoch hatte die DDR ein ambivalentes Verhältnis zu Israel, erklärt Winkler. Auf der einen Seite stand Israel als Staat der Überlebenden der Shoa. Auf der anderen Seite betrachtete die DDR Israel als Bollwerk der Amerikaner in Nahost. "Der in der DDR grassierende Antisemitismus und Antizionismus führte in den 1950er-Jahren zu einer erneuten Auswanderung von Juden aus Sachsen", erklärt er. In den 1980er- und 1990er-Jahren bekam Sachsen dann ein Problem mit zunehmendem Rechtsextremismus. "Dass heute wieder knapp 2.400 Juden in Sachsen leben, gleicht einem Wunder", sagt Winkler.
Dem Judentum ein Gesicht geben
Judith, Jene und Eli gehen in einen großen Saal. An der Decke ein Kronleuchter, die Wände holzvertäfelt. Nach und nach kommen rund zwei Dutzend Schüler aus der Oberstufe herein, setzen sich in einen Stuhlkreis. Jene gibt ein Säckchen mit Zetteln rum; Überraschungsfragen stehen darauf. "Snacks – süß oder salzig?" Oder: "Wenn heute die Sonne scheinen würde, was würdest du machen?" Die Schüler und die Botschafter lernen sich kennen; so soll es ja sein: alltäglich.
Dann sagt Jene: "Wer kennt einen Juden?" Vier Schüler melden sich. "Nach dieser Begegnung können alle die Hand heben", sagt Jene. Für sie gelte nur eine Regel: Es gibt keine Tabu-Themen. "Wenn ich über etwas nicht reden will, sag ich das."
Judith beobachtet und hört zu, lacht immer wieder. Es ist auch für sie das erste Mal – zumindest so offiziell. Mit Freunden und Bekannten tausche sie sich schon länger dazu aus. Oft seien die Leute erstaunt, dass es Antisemitismus überhaupt noch gibt. Judith sagt, sie wolle dem Judentum ein Gesicht geben. "Diese Var…i…a…" Sie setzt noch mal an, weicht ins Englische aus. "Diese Variety, diese Vielfalt, die es gibt." Man sage schließlich auch nicht "Ey, du Christ!". Dieser Punkt sei ihr wichtig: "Juden sind auch nur normale Menschen und auch nur Deutsche – also, wenn sie in Deutschland leben und sich als Deutsche sehen. So wie ich zum Beispiel." Eine Religion zu haben, bedeute nicht, "dass man krass anders ist".
Holocaust spielt nur eine Nebenrolle
Ihre Augen schweifen über den Kreis der Schüler. Sie legt ihre Hände ineinander, fährt sich nervös über den Arm. Lange ist sie still, die anderen reden.
"Ich trage Kippa, weil es für mich sonst ungewöhnlich ist – genauso, wie wenn jemand sein Smartphone nicht dabeihat", sagt Eli.
"Habt ihr ein jüdisches Lieblingsgericht?", fragt einer.
"Wie gut seht ihr eure jüdische Kultur repräsentiert?", ein anderer.
Und: "Habt ihr schon mal Diskriminierung aufgrund eurer Religion erlebt?"
Nach 40 Minuten schaltet sich Judith ein. "In meiner Heimatstadt gibt es nur einen sehr kleinen Supermarkt mit koscheren Lebensmitteln", sagt sie. "Koschere Lebensmittel sind unglaublich teuer", ergänzt Jene.
Der Holocaust spielt in den Gesprächen nur eine Nebenrolle. Er wird erwähnt, aber nicht thematisiert. Bekannt sind Judith die dunkelsten Episoden der deutschen Geschichte natürlich, nicht zuletzt durch Facharbeiten, die sie in der Schule geschrieben hat. "Europäische Exilorte deutscher Juden von 1933 bis 1939", heißt ein Text. Dafür hat sie sich über die drei Phasen der Judenverfolgung informiert. "Einen Essay habe ich über die Auswanderung von Kindern und Jugendlichen nach Israel nach dem Zerfall der Sowjetunion geschrieben."
Judenstern oder Davidstern?
Vergangenes Jahr hat Judith auf einer Podiumsdiskussion gesprochen, erst kürzlich hat sie Referendare geschult. "Ich habe dort ein Spiel gemacht, und eine Frage war: Wie nennt man den Stern, der das Symbol für die Juden ist?" Vier der 15 Referendare tippten auf "Judenstern". "Richtig wäre Davidstern, weil der ,Judenstern‘ das ist, was die Nazis den Juden aufgezwungen haben – der gelbe Stern." Judith schiebt gleich hinterher: "Es ist wichtig, da nicht verkopft zu sein. Wir können nur etwas daran ändern, wenn wir aufklären." Zum Schluss der Begegnung kramen Jene und Eli einen Chanukkaleuchter und einen Tallit-Gebetsschal aus einem Beutel und erklären, wann und wie sie eingesetzt werden.
Einige Wochen später in Judiths Heimatstadt. "Mir ist aufgefallen, dass die Schüler komplett unvoreingenommen waren", sagt sie. "Das ist das, was ich so toll finde. Man versteht sich auf Anhieb." Auch mit Menschen, die fern von ihrem eigenen Weltbild leben, möchte sie sich austauschen. Zum Beispiel solchen, die auf Corona-Demos "Judensterne" tragen. "Warum nicht?", sagt Judith. "Ich werde niemanden dafür hassen." Es gehe darum, mit Mitmenschen zu sprechen und ihre Ansichten zu verstehen.