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Vom eigenartigen Reiz eines Städtchens

Herrnhut feiert derzeit sein 300. Gründungsjubiläum. Wie Besucher den Ort vor fast 100 Jahren erlebten, vermittelt ein Stimmungsbild von 1924.

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Wer könnte Herrnhuter Stadtgeschichte in Bildern besser präsentieren als der einheimische Fotografenmeister Heinrich Schmorrde? Im Juni 1997, zum 275-jährigen Jubiläum der Zinzendorfstadt, gab er in seinem Fotoatelier sehenswerte Einblicke.
Wer könnte Herrnhuter Stadtgeschichte in Bildern besser präsentieren als der einheimische Fotografenmeister Heinrich Schmorrde? Im Juni 1997, zum 275-jährigen Jubiläum der Zinzendorfstadt, gab er in seinem Fotoatelier sehenswerte Einblicke. © Matthias Weber (Archiv)

Von Susanne Hausdorf

Nichts Historisches mit Daten und Zahlen und Begebenheiten. Etwas von dem eigenartigen Reiz dieses wunderlichen und kleinen Städtchens möchte ich wiedergeben, das den fremden Besucher seltsam anheimelt. Ist es die rührende Schlichtheit der Bewohner, die feine, stille Art, wie sie ihr Tagwerk erledigen, ihre Feste feiern, eine große Familie, in Leid und Freud miteinander verbunden?

Auf dem kaum fußbreiten „Trottoir“ kamen dem Besucher Leute entgegen, die er linkisch und altmodisch fand und belustigt musterte. Aber da sah er unbekümmerte Freundlichkeit und fast kindlich anmutende Arglosigkeit in Gruß und Gebärde. Und weiter, durch offene Fenster blickte er in saubere Zimmer mit blanken alten Möbeln und vielen schneeweißen Häkeldeckchen. Und immer stand da auch ein Blumenstrauß, und immer lag da irgendwo auf Tisch oder Fensterplatz das Buch des Hauses: die Bibel.

Rechts: Diesen Blick aus einem Wohnzimmerfenster verdeutlicht etwas von dem eigenartigen Reiz Herrnhuts, wie ihn Susanne Hausdorf im untenstehenden Beitrag beschreibt. Das Bild schuf der Maler Alfred Bernert (1893–1991), der 46 Jahre in der Stadt lebte.
Rechts: Diesen Blick aus einem Wohnzimmerfenster verdeutlicht etwas von dem eigenartigen Reiz Herrnhuts, wie ihn Susanne Hausdorf im untenstehenden Beitrag beschreibt. Das Bild schuf der Maler Alfred Bernert (1893–1991), der 46 Jahre in der Stadt lebte. © Sprigade

Das sind die lieben schlichten Häuser! So ein richtiges Herrnhuter Häuschen hat eine spiegelnd geputzte Messingklinke an der Haustür, eine gute alte Schelle dahinter, die chronisch heiser ist, und einen kühlen dämmrigen Hausflur, mit weißem Sand bestreut. Eine knarrende hölzerne Treppe führt ins Obergeschoß, manchmal ist sie aus Stein, blütenweiß getont. Hinter dem Hause das Gärtchen, ein liebes verträumtes Hausgärtlein mit einer lebenden Hecke darum; Malven blühen darin und mancherlei Nützliches. – Und dann ist der „Herrschaftsgarten“ da, das Schmuckstück des Ortes, für alle zugänglich, von jedermann geschont und respektiert. Ich wüßte kein friedlicheres Plätzchen als im Herrnhuter Herrschaftsgarten, an sonnigen Sommertagen, so gepflegt und anheimelnd wie das ganze Herrnhut selbst. Weiße Bänke unter Linden und Kastanien. Blätterrauschen, Bienensummen, dann und wann behutsame Schritte auf den Kieswegen, Kinderstimmen, irgendwoher die Klänge eines Chorals. Eine Uhr schlägt, tief, versonnen.

Der Gottesacker: Eine schmale Lindenallee führt hinauf. Ja, und dann steht man verwundert wie in einer großen Buchenlaube und sieht, daß das hier keine Gräber sind, wie wir sie kennen auf unseren Friedhöfen, mit teueren und billigen Grabsteinen, prachtvoll geschmückten Erdgrüften neben verwahrlosten Rasenhügeln. Nein, hier liegen sie alle gleich, die stillen Schläfer, und man hat das Gefühl, daß sie wirklich friedlich ruhen unter den schmucklosen Steinplatten. Was sollten hier prunkvolle Monumente und kunstvolles Schmiedewerk, hier, wo Äußerlichkeit nichts, tiefste Innerlichkeit alles gilt! Nur eine schmale Platte mit Namen, Geburts- und Todestag und einem Spruch darunter, kaum Handhoch über dem Erdboden. Aber einem jeden Sarg gab die ganze Gemeinde das Geleit, wie sie auch der Taufe und der Trauung jedes einzelnen Mitglieds beiwohnt.

Die Kirche? Ja, die übliche Kirche mit Turm und Portal sucht man vergebens. Inmitten des Ortes, von den Häusern und Häuschen umgeben wie eine gute Mutter von ihrer Kinderschar, liegt es, das Gotteshaus. Weiß, schmucklos, mit winzigem Türmchen, das man gar nicht als Kirchturm anerkennen kann. Drinnen in dem einfachen hellen Saal haben sie alle ihren bestimmten Platz: die Alten, die Jungen, die Jüngsten; hüben die Frauen, drüben die Männer. Weiß die Wände, die Emporen, die Orgel; auf weißem sandbestreutem Fußboden die weißen Bänke. Von den hohen Fenstern, die das Licht ungebrochen hereinlassen, ein dunkel verhangenes Pult, ein besonderer Stuhl dahinter. Hier spricht der Prediger zu seiner Gemeinde. Und er spricht wirklich.

Gilt als Gründungsstätte Herrnhuts: Der Gedenkstein an der alten B 178 erinnert an die Baumfällung des mährischen Zimmermanns Christian David für den Bau des ersten Hauses am 17. Juni 1722.
Gilt als Gründungsstätte Herrnhuts: Der Gedenkstein an der alten B 178 erinnert an die Baumfällung des mährischen Zimmermanns Christian David für den Bau des ersten Hauses am 17. Juni 1722. © Peter Stache (Archiv)

Krieg und Revolution haben auch Herrnhut ihre Spuren aufgedrängt. Aber das stört nicht weiter; so wenig, wie die paar modernen Stadthäuser zwischen den ehrwürdigen grauen Häuschen. Autos rasen über das holprige Pflaster der Staatsstraße in Richtung Löbau-Zittau zu. Es gibt sogar Sommergäste in Herrnhut, was tut's? Einer stillen unberührten Insel gleich liegt es ruhig im „brausenden Strom der Zeit“. Und wer von seinem heilsamen Frieden kostete, der denkt sein mit Heimweh.

Dieses Stimmungsbild entdeckte unser Leser Hubert Wiesner aus Hirschfelde in den „Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz“, Jahrgang 1924. Die Rechtschreibung des etwas gekürzten Beitrages entspricht den damaligen Regeln.