"Es herrschen Entsetzen, Wut, Sorge und Angst"

Meißen. Abgesehen von den Bänken, die aufgrund der Coronaverordnung freigehalten werden müssen, ist es in der katholischen St. Benno-Kirche voll geworden. Mehr als 40, hauptsächlich ältere, Kirchgänger haben Platz genommen. Der Gottesdienst beginnt mit einer Schweigeminute. "Nimm dich unserer Kirche an, die so viel Gutes und so viel Schlechtes verursacht hat", predigt Pfarrer Stephan Löwe. "Herr erbarme dich", dringt es nur gedämmt durch die Masken zurück, die auch auf den Bänken nicht abgesetzt werden dürfen.
Für den heutigen Gottesdienst hat Stephan Löwe zwei besonders schwere Texte ausgesucht. In einem werden Menschen seliggepriesen und beglückwünscht, die arm, hungrig, traurig sind oder verfolgt werden. "Ist das nicht zynisch?", ordnet Löwe den Text aus dem Lukas-Evangelium ein. Auf diese Art und Weise würde man dem Anliegen Jesu nicht gerecht werden, so wörtlich könne das nicht gemeint sein.
Der Meißner Pfarrer scheut sich nicht vor kritischen Themen – und auch der Missbrauchsskandal werde in seinen Gottesdiensten aktiv angesprochen. Das Bistum Dresden-Meißen spricht von einer Krise, in welche die Glaubensgemeinschaft immer tiefer rutscht und möchte deshalb Konsequenzen aus der kirchlichen Glaubwürdigkeitskrise ziehen. Stephan Löwe ist froh, dass Prävention endlich zu einem Hauptthema geworden sei.
Herr Löwe, wie ist die Stimmung in der Gemeinde, werden Sie von Austrittsgesuchen überhäuft?
Wie alle leiden wir unter den Kontaktbeschränkungen. Da ist es gar nicht so einfach, sich ein generelles Stimmungsbild zu machen. Bei vielen herrscht Entsetzen, Wut, Sorge und Angst. Letztes Jahr traten 73 Mitglieder aus unseren insgesamt sieben Gemeinden aus. Es dauert immer eine Weile, bis uns die jüngsten Zahlen über die Standesämter erreichen. Für Januar 2022 habe ich sie noch nicht.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie von traumatisierten Missbrauchs-Opfern lesen?
Es bricht mir das Herz und ich schäme mich zutiefst.
Können Sie trotzdem noch stolz auf Ihren Beruf sein?
„Stolz“ ist für meinen Beruf kein passendes Wort. Ich versuche, meinen Gemeinden ein guter Seelsorger zu sein, in guten und in schweren Zeiten. Auf vieles, was in unserer Kirche geschehen ist, bin ich nicht stolz, schon gar nicht auf Verbrechen.
Wie wirkt sich der Missbrauchsskandal auf Ihre Arbeit aus?
Das Thema ist bei allen Sitzungen unserer Gremien präsent. Unsere Gemeinde besitzt ein approbiertes „Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie erwachsenen Schutzbefohlenen“. Damit reflektieren wir alle unsere Veranstaltungen und bereiten sie entsprechend vor.
Regelmäßig müssen haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an Fort- und Weitbildungskursen teilnehmen und wir haben zwei Präventionsfachkräfte, die als erste Ansprechpartner für Gemeindemitglieder erreichbar sind. Prävention ist endlich zu einem Hauptthema geworden.
Wie muss eine Erneuerung der katholischen Kirche aussehen?
Zukunft hat immer eine lange Vergangenheit, heißt es. Die katholische Kirche muss sich so erneuern, dass sich die dunklen Kapitel ihrer Geschichte nicht mehr wiederholen können: aus der Vergangenheit lernen, auch wenn es noch so erschreckend ist. Zurzeit hört und liest man aus höchsten Kirchenkreisen, was man vor einigen Wochen nicht einmal zu denken gewagt hätte. Die Synode in Frankfurt will vieles auf den Weg bringen. Systemrelevante Veränderungen gehen aber nur über Rom.
Das macht die Angelegenheit delikat. Wenn sich Konservative und Reformer nicht mehr die Hände reichen können, dann kommt der große Bruch und zwischen den Fronten viele Menschen, die einfach ihren persönlichen und gemeinschaftlichen Glauben leben und gestalten, die beten, feiern und auch klagen wollen.
Was haben Sie Gemeindemitgliedern zu sagen, die sich überlegen, aufgrund des jüngsten Skandals aus der Kirche auszusteigen?
Es ist nicht so, dass sich Gemeindemitglieder vor oder nach ihrem Austritt persönlich beim Pfarrer verabschieden. Die wenigsten davon habe ich kennengelernt. Ich bin mir aber sicher, dass es dabei nicht bleiben wird, sondern sich vermehrt auch Leute zurückziehen werden, welche das Gemeindeleben bisher mitgestaltet und mitgetragen haben. Die Türen werden nicht verschlossen, sondern bleiben offen. Vielleicht gibt es einmal wieder einen gemeinsamen Weg.
Das Gespräch führte Marvin Graewert.