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Ukrainer in Meißen: "Bitte gebt uns etwas Zeit"

Das Herz sagt gehen, die Vernunft bleiben. Die Zerrissenheit geflohener Ukrainer ist groß. Eine Ausstellung im Meißner Rathaus gibt nun Einblick in ihre Lebens- und Gefühlswelt.

Von Andre Schramm
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Die Teilnehmerinnen der Mitmach-Ausstellung "Meine Ukraine!". Eröffnung ist am 23. Februar.
Die Teilnehmerinnen der Mitmach-Ausstellung "Meine Ukraine!". Eröffnung ist am 23. Februar. © Claudia Hübschmann

Meißen. Daniel Bahrmanns Studio am Donnerstagnachmittag: Neun Ukrainer sitzen an einem langen Tisch. Mit einer Ausnahme alles Frauen. Sie stammen aus Meißen, Radebeul und Dresden. Jede(r) stellt sich kurz vor. Die Jüngste in der Runde ist die achtjährige Zlata. Sie schämt sich etwas. Nicht schlimm. Die Älteste heißt Nadezhda Guboglo. Die 63-Jährige hatte ein schönes Leben. Sie arbeitete in einem gutbezahlten Job in Mariupol. Was sie erlebt hat, kann man sich nicht vorstellen.

Nadezhda Guboglo erzählt von Leichen auf den Straßen. "Da lagen Menschen herum, die man kannte", sagt sie unter Tränen. Sie erzählt von Kindern, denen die Gliedmaßen fehlten, von Russen in ukrainische Uniformen, die gezielt junge Männer erschossen haben. Sie berichtet auch, wie es ist ohne Strom, Wasser und Gas wochenlang in Kellern zu hausen mit schreienden Babys. Kein Strom, kein Wasser, kein Gas. "Wir mussten zum Kochen rausgehen. Die Gefahr, dass man nicht mehr zurückkommt, war riesig", sagt sie. Nach einer Weile, habe man schon am Geräusch erkannt, um welche Art von Bombe es sich handelt.

Ihr Neffe ist noch dort. Vor zwei Monaten hat sie das letzte Mal von ihm gehört. Ob er noch lebt? Im März 2022 haben Nadezhdas Nachbarn die Stadt verlassen. Ein Platz im Auto war noch frei. Sie stieg ein. "Es ist eigentlich ein Wunder, dass sie heute bei uns am Tisch sitzt", findet Nataliya Vogel. Sie ist ebenfalls gebürtige Ukrainerin, lebt aber schon seit 20 Jahren in Meißen und hilft beim Übersetzen.

Wie geht es Nadezhda Guboglo ein Jahr nach Kriegsausbruch? "Ich selbst bin körperlich am Leben. Leben tue ich aber nicht", meint die Dame. Frau Guboglo ist trotzdem dankbar – für die Hilfe, die ihr in Deutschland widerfahren ist. "Ohne die Unterstützung der Menschen hier wäre ich wahrscheinlich verrückt geworden", sagt die Erwachsenen-Psychologin. Und obwohl sie sich jedes Mal schlecht fühlt, wenn sie über ihre Erlebnisse spricht, hat sie sich bereit erklärt, Teil der Ausstellung "Meine Ukraine!" zu sein. Sie will, dass man erfährt, was in ihrer Heimat passiert und hat ihre Geschichte aufgeschrieben.

Mehr zuhören, statt belehren

"Die Idee war, den Menschen aus der Ukraine, die zu uns gekommen sind, eine Stimme zu geben, ihr Leid, ihren Schmerz, ihre Ängste, aber auch ihre Hoffnungen für die Zukunft sichtbar zu machen", erklärt Julia Gerlach von der Evangelischen Akademie Sachsen. Die Debatte hierzulande werde ihrer Ansicht nach sehr egoistisch geführt. "Da geht es in der Regel darum, welche negativen Folgen der Krieg für uns hat. Das Leid der Menschen vor Ort spielt dabei kaum eine Rolle", so Gerlach weiter. Man müsse künftig mehr zuhören, anstatt zu belehren, schiebt sie hinterher. Um sich mit dem Thema ernsthaft auseinanderzusetzen, hatte sich das Projekt-Team, zu dem u. a. auch das Bündnis "Buntes Meißen" und der Meißener Kulturverein gehören, für das Format einer Mitmach-Ausstellung entschieden.

Man besuchte Deutsch- und Integrationskurse im Landkreis Meißen, stellte das Projekt vor. "Die Träger, darunter die Volkshochschule, die Euro Schulen und andere, waren kooperativ und haben uns den Zugang ermöglicht. Zudem haben wir mit Handzetteln den Aufruf verteilt und über ukrainische Mitstreiterinnen in die ukrainische Community über Telegram geworben", so Gerlach. So sind inzwischen viele, sehr unterschiedliche Beiträge zusammengekommen: Fotos, Bilder von Erwachsenen und Kindern, Gedichte, Prosa-Texte, sowie ein paar Audio- und Videoaufnahmen.

Neben Nadezhda Guboglo sitzt Iryna, 35, Mutter von zwei Kindern (13 und 8 Jahre). Sie stammt aus Tschernihiw im Norden der Ukraine. Am 25. Februar hatten sie die Stadt verlassen und sich in dem nahegelegenen Dorf Yahidne im Keller eines Hauses versteckt. "Jedes Mal, wenn es eine Explosion gab, habe ich mich auf meine Kinder geschmissen", erinnert sie sich. Einen knappen Monat ging das so. Der Vater hat sie schließlich an die rumänische Grenze gefahren. Er blieb, sie kamen nach Dresden. Silvester hat sich die Familie in Lwiv getroffen. Irynas Zustand? "Meine Kinder besuchen die Schule. Das läuft gut. Ich selbst lebe von Tag zu Tag und würde sofort zurückgehen. Mit meinen Kindern kann ich das aber nicht", sagt sie. Iryna ist gerade dabei, Bilder aus ihrer zerstörten Heimatstadt herauszusuchen – für die Ausstellung. Mit ihrem Mann telefoniert sie jeden Tag.

Man spürt in der Runde ein großes Bedürfnis, die eigenen Erlebnisse teilen zu wollen. Die Dankbarkeit, hier in Sicherheit leben zu dürfen, ist mindestens genauso groß. Nicht alle, aber einige haben auch negative Erfahrungen in Deutschland gemacht. So erzählt eine Ukrainerin, dass sie runtergemacht worden sei, weil sie ein gutes Auto fährt. Sie solle das Fahrzeug verkaufen und das Geld in ihre Heimat schicken, habe der Mann auf dem Parkplatz zu ihr gesagt. Inna aus Kiew wurde auch schon mit derlei Vorwürfen konfrontiert. Da fielen Sprüche, wie "ihr wollt nur unser Geld". Inna war in ihrem früheren Leben PR-Managerin, hatte eine Eigentumswohnung und ist dreimal im Jahr in den Urlaub gefahren. "Wir haben gut gelebt. Den Krieg haben wir uns nicht ausgesucht", sagt sie und erzählt, dass die Integrations-Bereitschaft ihrer geflohenen Landsleute sehr groß sei. Viele säßen in den Integrationskursen oder warteten darauf. Innas Bitte: "Gebt uns noch ein bisschen Zeit." Als jemand die kleine Zlata fragt, was sie denn am meisten vermisse, traut sie sich dann doch zu antworten: "Meinen Papa".

Am 23. Februar, 18 Uhr, soll die Ausstellung im Rathaus eröffnet werden. Interessenten sind dazu herzlich eingeladen. Die Schau ist bis 23. März im Foyer des Rathauses öffentlich zugänglich. Danach zieht sie nach Nossen und Großenhain weiter.