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Wechsel vom Gymnasium an Förderschule

Nur dort ist für den Riesaer Thoralf Koß Platz für seine Visionen. An der Kalkbergschule in Meißen hat der Lehrer sogar die Pausenglocke abgeschafft.

Von Marvin Graewert
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Thoralf Koß hat 34 Jahre gebraucht, um eine Schule zu finden, an der er nach seinen Vorstellungen unterrichten kann.
Thoralf Koß hat 34 Jahre gebraucht, um eine Schule zu finden, an der er nach seinen Vorstellungen unterrichten kann. © Claudia Hübschmann

Riesa/Meißen. O Captain, my Captain, rufen Thoralf Koß' Schüler ihm zum Abschied entgegen. Für den damaligen Gymnasiallehrer muss es eine Genugtuung gewesen sein, genau wie sein absolutes Vorbild verabschiedet zu werden. Mit dem gymnasialen System wollte er trotzdem nichts mehr zu tun haben. Denn wenn er die Schüler des Werner-Heisenberg-Gymnasiums in Riesa auf die Tische stellte, um sie zu ermutigen, alles aus einer anderen Perspektive zu sehen, haben seine Club-der-toten-Dichter-Methoden im Lehrerzimmer für Stirnrunzeln gesorgt.

Selbst die Schüler waren von solch unkonventionellen Unterrichtsmethoden absolut verunsichert.  "Wenn Schüler vor dem Unterricht zu mir gekommen sind und gefragt haben, was wir heute machen, dann nur um zu erfahren, ob es dafür auch Punkte gibt", erinnert sich Koß, der davon gar nichts hält: "Wer nicht mitgedacht, sondern nur wiedergegeben hat, der hatte bei mir keine Chance."

Guter Schulunterricht sieht für Koß anders aus, da müssen die Schüler im Mittelpunkt stehen und nicht nur ihre erbrachten Leistungen. Der fehlende Rückhalt für Koß' Visionen hat ihn tief gekränkt: Wenn sich der 56-Jährige an seine letzten Tage am Riesaer Gymnasium erinnert, kommt er nicht umhin, Parallelen zu seinem Berufsverbot zu DDR-Zeiten zu ziehen: Damals hätte er das 'Neue Forum' in Riesa mit aufgebaut. Nur einer sehr vertrauten Lehrerin erzählte er davon, die ihn sofort an die Schulleitung verraten habe. Ähnliche Hinterhältigkeiten seien ihm auch zu BRD-Zeiten entgegengeschlagen.

Koß ist immer gegen den Strom geschwommen. Mal rettete er einem Schüler das Abitur, in dem er seine Deutschnote um einen Punkt hob: "Dieser eine Punkt, der hat sich gelohnt, auch wenn er die Lehrer gegen mich aufgebracht hat und ich letztendlich die Schule verlassen habe." Dafür habe sich das Leben des Schülers in die richtige Richtung entwickelt. "Manchmal sind wir als Lehrer in der Lage, Gott zu spielen. Und es gibt verdammt böse Götter."

Nur an Förderschulen geht es um die Schüler

Für Koß beginnt die Suche nach einer passenden Schule an der Förderschule Roßwein. Ein schlechter Start. "Wenn da ein Gymnasial-Lehrer kommt, dann denken die meisten Lehrer, da stimmt etwas nicht. Wer wechselt schon freiwillig vom Gymnasium an die Förderschule? Also nach ganz unten." Nach drei Jahren der nächste Versuch in Priestewitz – auch hier fühlt er sich nicht wohl. Merkt aber, dass er zumindest die für ihn passende Schulform gefunden hat: "Kurioserweise geht es nur noch an Förderschulen wirklich um die Schüler."

Nächster Versuch an der Kalkbergschule in Meißen: Dort wartet gleich eine besonders problematische Klasse: An seinem ersten Tag zerschlägt seine neue Schülerin einen Schrank.

Ab sofort beginnt jede Unterrichtsstunde mit Atemübungen: "Ich musste den Schülern erst mal klar machen, dass wir nicht gegeneinander kämpfen", sagt Koß, den sogar die Pausenglocke seinen Unterricht viel zu sehr beschneidet. Mittlerweile hat er sie abgeschafft. "Wir organisieren unseren Unterricht jetzt selber, und es ist faszinierend: Niemand hat mehr im Hinterkopf, dass es gleich klingelt."

Es sind diese Freiheiten, die Koß am Gymnasium sehnlichst vermisst hat: "Hier zwingt mich kein Lehrplan, durch irgendwelchen Stoff zu jagen. Dafür muss ich viel stärker pädagogisch arbeiten: Um eine Lernatmosphäre zu schaffen, muss ich zuerst mit den Problemen der Schüler umgehen können." Die Geschichten, die er zu hören bekommt, tun ihm manchmal selber weh: "Bei zehn, elf Geschwistern hat den Kindern niemand ein Märchen vorgelesen. Das merkt man natürlich, wenn es ums Lesen und Schreiben geht. "

Der intensive Kontakt ist nur möglich, weil Koß nun statt 30 nur noch zehn Schüler vor sich sitzen hat. Im Extremfall höchstens 15. "Schon das empfinde ich mittlerweile als zu viel: Erst in dem Moment,  in dem ein Schüler merkt, dass man ihm zuhört, er das gefragt wird, was er zu Hause schon lange nicht mehr gefragt wird. Erst dann öffnen sich die Schüler." Dann muss man sich aber auch um die Probleme der Schüler kümmern. Das ist schon gar nicht mehr so einfach – doch an der Kalkbergschule gebe es Schulhunde und ein gutes Zusammenspiel zwischen den Sozialpädagogen.

34 Dienstjahre hat es gedauert, bis Koß eine Schule gefunden hat, die es ihm erlaubt, seine Schüler alles auch mal aus einer anderen Perspektive sehen zu lassen.

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