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Miriam Meckel und die Wärme des Denkens

In ihrer Dresdner Rede warnt die Digital-Pionierin vor einer Ideologie des Durchschnitts und hält ein Plädoyer für die Abweichung von der Norm.

Von Marcus Thielking
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Miriam Meckel bei ihrer Dresdner Rede.
Miriam Meckel bei ihrer Dresdner Rede. © Ronald Bonß

Das hätte jetzt noch gefehlt, dass Miriam Meckel über ein Stahlgerüst auf die Bühne klettert, so wie die Schauspieler in dem Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“. Das Brecht-Drama am Dresdner Schauspielhaus hat sie am Abend vorher noch gesehen, und sie war so beeindruckt, sagt sie, dass sie das Bühnengerüst am liebsten für ihren Vortrag verwendet hätte. Am diesem Sonntagmorgen war sie auch noch mal eben schnell im Mathematisch-Physikalischen Salon, und auch das ist ja schon eine kleine Abweichung von der Norm, dass man an diesem Wochenende nicht, wie alle anderen, in die neu eröffneten Alten Meister rammelt, sondern gleich gegenüber in Augusts Hightech-Sammlung aus der Barockzeit.

Jetzt steht Miriam Meckel also selbst auf dieser Theaterbühne, und außer ihr ist da nur noch ein Rednerpult, das sie aber nur als Abstellfläche für ihren Laptop und ein Glas Wasser braucht. Auch sonst macht sie bei dieser Dresdner Rede – der wieder mal ausverkauften und letzten in diesem Jahr – einiges anders. Natürlich gab es in den drei Jahrzehnten, in denen diese Vortragsreihe des Staatsschauspiels Dresden und der Sächsischen Zeitung existiert, immer wieder mal experimentelle Abweichungen vom klassischen Rednerpult. Aber eine so konsequente und durchdachte Bildsprache und Dramaturgie wie bei Miriam Meckel hat man dabei selten erlebt.

Die Abweichung von der Norm, das ist auch das Thema ihrer Rede. Als Pionierin des digitalen Zeitalters befasst sie sich als Wissenschaftlerin, Journalistin und Buchautorin seit vielen Jahren mit dem digitalen Wandel – und vor allem mit der Frage, was er mit den Menschen und der Gesellschaft macht. Miriam Meckel gehört ganz sicher nicht zu den Kulturpessimisten, die im Internet den Untergang des Abendlandes sehen. Im Gegenteil war sie schon eine begeisterte Nutzerin von Twitter und Co. als viele noch nicht mal wussten, wie man googelt, was das ist.

"Erscanne dich selbst!"

Doch aufgrund ihrer Expertise kennt sie nicht nur die Chancen des digitalen Zeitalters, sondern auch die verborgenen Gefahren, über die in der Öffentlichkeit nicht so oft gesprochen wird wie über Datenschutz und Hasskommentare. Zu diesen Gefahren zählt sie die zunehmende Tendenz eines „binären Denkens“ nach dem Muster von Computern, die nur mit Einsen und Nullen rechnen können. In einer Welt, die von Computern bestimmt wird, gebe es eine starke Neigung, nur noch in den Kategorien „Entweder-Oder“, „Schwarz und Weiß“ zu denken.

Entsprechend gekleidet bewegt sich Miriam Meckel auf der Bühne, schwarze Hose, weiße Jacke. Auch die Bilder, Texte und Videos auf der Leinwand, durch die sie sich mit einer Fernbedienung klickt, sind ganz in Schwarz und Weiß gehalten. „Daten“, sagt sie, „sollten eigentlich Mittel zum Zweck sein, werden aber heute sehr oft Selbstzweck.“ Wenn das Smartphone die Schritte zählt, den Puls fühlt, den Schlaf überwacht und den Kalorienverbrauch kontrolliert – womöglich sogar beim Sex –, dann mutiere die antike Maxime „Erkenne dich selbst!“ in eine moderne Groteske: „Erscanne dich selbst!“

Dieser Hang zur Optimierung, Perfektionierung und totalen Vermessung des Lebens, sagt Meckel, entspreche weder der menschlichen Natur noch der Komplexität unserer Welt. „Rein intuitiv dürfen wir heute immer weniger tun“, warnt sie. Immer öfter werden vergleichbare Daten zum Maßstab aller Dinge, in den Chefetagen ebenso wie bei der Partnersuche.

Das Elend nahm seinen Lauf, so Meckel, mit dem belgischen Astronomen Adolphe Quetelet und seiner Erfindung des Body-Mass-Index im 19. Jahrhundert. Sie liest ein Zitat von Quetelet for, das einem die Haare zu Berge stehen lässt: „Alles, was von den Ausprägungen des Durchschnittsmenschen abweicht, ist deformiert und krank. Aber wenn ein Einzelner alle Merkmale des Durchschnittsmenschen besäße, repräsentierte er alles, was erhaben, gut und schön ist.“ Miriam Meckel weist auf den verhängnisvollen Irrtum dieser Denkweise hin: „Das perfekte symmetrische Gesicht ist zwar schön“, sagt sie, „aber langweilig.“

"Nicht jede Norm ist falsch"

Nun wäre das alles vielleicht halb so wild, wenn es nicht längst System hätte. Und es geht bei dem Thema auch keineswegs nur um Google und Smartphones. Den stärksten Zwischenapplaus erhält die Rednerin, als sie unsere Bildungsanstalten kritisiert: Statt sich darauf zu konzentrieren, individuelle Stärken zu stärken und unterschiedliche Talente zu fördern, sei die Schule immer noch darauf ausgerichtet, Schwächen und Abweichungen von der Norm auszubügeln. Erst durch Konfrontation aber entstehe Reibung und damit die „Wärme des Denkens“. Miriam Meckel verweist auf Banken und Unternehmensberatungen in den USA, die vermehrt ganz bewusst Autisten einstellen, weil diese ganz besondere Fähigkeiten haben.

Wobei sie – und hier wird ihr Vortrag fast ein bisschen dialektisch – auch davor warnt, die Abweichung von der Norm zur neuen Norm zu erklären. In Schweden zum Beispiel werde „Normkritik“ schon offiziell praktiziert, also das gezielte Identifizieren und Infragestellen bestimmter Normen. „Dadurch ist nichts gewonnen!“, sagt Miriam Meckel. Wenn man auf Normenjagd gehe, um alles aufzulösen, was als Handreichung für ein zivilisiertes Leben hilfreich sein könne, hebe man die Kritik an der Norm selbst auf die Stufe einer Norm. „Nicht jede Norm ist falsch“, sagt sie, falsch sei nur der Absolutismus, sowohl in der Anerkennung wie auch in der Ablehnung von Normen.

Gibt es noch Hoffnung in einer Welt, in der Computer längst nicht mehr wegzudenken sind? Zum Schluss ihrer Rede kommt Miriam Meckel auf die Entwicklung der Quantencomputer zu sprechen. Diese operieren nicht mehr mit der Unterscheidung von 0 und 1, sondern mit Zwischenzuständen. Als Beispiel dreht sich auf der Leinwand im Video eine Münze, und solange diese nicht fällt, steht sie weder für Kopf noch für Zahl, sondern für etwas Dazwischen. Ein Paradox, das dem menschlichen Wesen und Denken viel besser entspreche als die Welt der Bits und Bytes. Deshalb sieht Meckel in Quantencomputern eine spannende technische Veränderung, die auch wieder Auswirkungen auf unser Leben und unsere Gesellschaft haben könnte. „Es könnte die Welt und ihre Daten in allen unterschiedlichen Ausprägungen wieder ein wenig mit sich versöhnen.“