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Paul und Karl sind Freilerner

Obwohl es in Deutschland verboten ist: Familie Kleinert aus Priestewitz unterrichtet ihre Jungs Zuhause.

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© Klaus-Dieter Brühl

Von Catharina Karlshaus

Priestewitz. Am Montag sind die Sommerferien in Sachsen Geschichte. Sechs Wochen ohne Unterricht, Hausaufgaben und Leistungskontrollen. Sechs Wochen ohne Lehrer, Freunde und so manchen Pausenspaß. Für Paul und Karl nichts, was die sympathischen Jungs aus Priestewitz in irgendeiner Weise aus der Ruhe bringen dürfte. Denn streng genommen hatten die zehn und sieben Jahre alten Kinder sowieso keine Sommerferien. Das „Wir-sind-jetzt-Zuhause-Gefühl“ haben sie ohnehin jeden Tag und wie es ist, sehnsuchtsvoll auszurechnen, wann die nächste Zeit außerhalb eines Klassenzimmers ansteht, wissen sie auch nicht. Paul und Karl gehen nämlich nicht zur Schule. Sie sind „Freilerner“ und werden unterrichtet von ihrer Mutter Noreen, Freunden und Bekannten. Eigentlich jedem, der den beiden neben Rechnen, Schreiben, Lesen etwas vermitteln kann, was die aufgeweckten Jungen interessiert.

Verantwortung selbst übernehmen

Denn genau darum geht es der 35-Jährigen, die zunächst Mathematik und Physik im Lehramt studiert hat und bis zur Geburt ihrer drei Söhne als Zahntechnikerin gearbeitet hat. Noreen Kleinert wollte ihren Kindern nichts überstülpen. Sie wollte weder deren Entscheidungen manipulieren noch ihnen einen völlig durchgeplanten Alltag aufzwingen, der wenig dem eines selbstbestimmten, unbeschwerten Kindes entspreche. „Ich wollte die Verantwortung für die Bildung meines Kindes nicht abgeben“, sagt Noreen Kleinert und nickt.

Bereits als Paul und Karl noch jünger gewesen seien und sich später zu ihnen der heute vier Jahre alte Franz gesellte, habe sie das Beisammensein mit ihren Sprösslingen genossen. Da sie ohnehin nichtberufstätig gewesen sei, habe sich die Frage nach dem Besuch eines Kindergartens nie gestellt. „Weshalb sollte ich sie dort hingeben, wenn ich selbst Zeit für ihre Betreuung habe? In Kontakt mit anderen Kindern waren sie immer, ihre Fragen konnte ich selbst beantworten und ihnen beibringen, was sie tun wollten“, erklärt Kleinert. Geradezu reingewachsen sei sie in das Leben mit ihren Jungs und habe dabei entdeckt, dass es nicht unbedingt der gesellschaftlich vorgegebene Standardplan sein müsse.

Als die Aufforderung zur Schulanmeldung für ihren Ältesten gekommen wäre, habe die Familie noch in Dresden gewohnt. Möglich, dass die Größe der dichter besiedelten Landeshauptstadt einer der Gründe gewesen ist, dass die An- und plötzliche Wiederabmeldung von Paul in der Schule gar nicht aufgefallen ist. Nachgefragt habe jedenfalls niemand. Und so tat Noreen Kleinert das, was deutschlandweit gut tausend Eltern tun: Sie meldete ihren Sohn bei der amerikanischen Fernschule „Clonlara“ an und unterrichtete ihn für 53 Euro Schulgeld pro Monat fortan Zuhause.

Wohl wissend, dass sie sich damit strafbar macht. Denn der Umstand, dass Paul und Karl keine Schule besuchen, verstößt gegen das Gesetz. In Deutschland herrscht Schulpflicht. Wer seine Kinder von der regulären Schule abmeldet, muss mit Strafverfolgung, hohen Bußgeldern und im schlimmsten Fall mit dem Entzug des Sorgerechts rechnen. Während in den USA gar mehrere Millionen Kinder im sogenannten „Homeschooling“ lernen, ist diese Wissensaneignung in den privaten vier Wänden in Deutschland seit 1939 illegal.

In allen Bundesländern gilt die allgemeine Schulpflicht. Praktisch erwarten demnach die Behörden, dass der Unterricht – außer in bestimmten Krankheitsfällen – in einem Schulgebäude stattfindet. Die Angst, Eltern seien nicht ausreichend befähigt zur Wissensvermittlung, orientierten sich zu wenig an den gängigen Lehrplänen oder drängten ihre Kinder ins soziale Abseits macht Deutschland europaweit zum Ausnahmefall.

Schwärmen die Mitglieder der singenden „The Kelly Family“ aus Irland noch heute ungeniert von ihren Homeschooling-Erlebnissen, müssen sich auch ambitionierte Eltern in Norwegen, Dänemark, Schweden, Frankreich, Österreich, der Schweiz, Großbritannien, Polen, Belgien, Italien, Spanien und Ungarn keineswegs wegducken. Sie dürfen straffrei das tun, wofür Noreen Kleinert erst vor ein paar Wochen wieder rechtlich belangt worden ist. „Es kommt immer mal vor, dass ich einen Bußgeldbescheid wegen Nichteinhaltung der Schulpflicht im Briefkasten finde“, bekennt Kleinert.

Nach dem Umzug ins ländliche Medessen habe sie zunächst ihren Zweitgeborenen Karl in der örtlichen Grundschule angemeldet. Was im weitläufigen Dresden bürokratisch durchflutschte, sei in der übersichtlicheren Landgemeinde jedoch wohl irgendwie bemerkt worden. Seitdem habe man Kontakt mit dem Amtsgericht in Riesa und habe vom Jugendamt einen „Familienberater“ zur Seite gestellt bekommen. „Wir haben auch überhaupt kein Problem damit, mit diesem gut zusammenzuarbeiten! Denn wir müssen uns indem, was wir mit den Kindern tun, keineswegs verstecken“, betont Noreen Kleinert.

Die Entscheidung, ihre persönliche Geschichte in der Sächsischen Zeitung zu veröffentlichen, habe die Familie gemeinsam getroffen. Gut möglich, so Kleinert, dass einigen Nachbarn beim Lesen jetzt gerade verblüfft die Kaffeetasse aus der Hand fiele. Immerhin gehöre es zum gesellschaftlichen Leben dazu, dass Mädchen und Jungen nun mal ab dem siebenten Lebensjahr zur Schule gingen. Auch die Großeltern von Paul und Karl hätten das erwartet und seien geradezu entsetzt gewesen, als die Einladung zur traditionellen Schuleinführung ausblieb.

Mittlerweile hätten sie sich daran gewöhnt, dass ihre Enkel auf ihre ganz eigene Weise groß würden: Morgens gegen um acht aufstehen, Katzen und Hühner versorgen, frühstücken und genau danach das tun, wonach ihnen an diesem Tag der Sinne stehe. Mal könne dass das Backen eines Kuchens sein, in dessen Herstellung Mama Noreen das Lesen des Rezeptes und die Lehre der Menge einbettet.

Mal besuche man ein Museum, aller zwei Wochen die Zentralbibliothek oder das Panometer in Dresden, schaue Wissenssendungen und musiziere auf Gitarre, Trompete oder Flöte. Ja, gelernt wird nicht im Schulzimmer, sondern überall. Biologie, Sachunterricht und Geografie werden beispielsweise greifbar durch einen Tag inmitten der Natur. Physik erklärt der Papa an der Bohrmaschine und das einzelne Sterne am Nachthimmel ganze Bilder ergeben, hat Paul bereits im Kleinkindalter beim Übernachten im Zelt gelernt.

Stures Auswendiglernen und graue Theorie ist so rein gar nichts für die Freilerner. Stattdessen beschäftigen sich die Kinder ausschließlich mit jenen Dingen, die sie wirklich interessieren und das führe – zumindest laut mehrerer amerikanischen Studien – durchaus zum Erfolg. Dass Noreen Kleinert Englisch flüssig spricht, erleichtere das Thema der Fremdsprache und auch sonst ist die junge Frau überhaupt rundum zuversichtlich, ihren Kindern auch ohne Lehrbücher alles Wissenswerte mit auf den Weg zu geben.

Fußball wird im Verein trainiert

Dass sie bis jetzt noch nie – außer für die Mitwirkung beim Krippenspiel in der Merschwitzer Kirche – etwas auswendig lernen mussten, ihnen die Erbringung einer Leistung im Rahmen einer „Klassenarbeit“ ebenso fremd ist wie Zensuren, beunruhigt Noreen Kleinert nicht. Argumente, ihre Söhne seien irgendwann mal nicht tauglich für die sie umgebende Leistungsgesellschaft, schreckt sie keineswegs. Im Gegenteil.

„Wieso sollen wir uns dem Rhythmus dieser in sich immer kränker werdenden Gesellschaft anpassen? Unsere Kinder sind innerlich gesund und stark, und bekommen allein psychisch angstfrei jegliches Rüstzeug“, ist sich Noreen Kleinert sicher. Wenn sie eines Tages doch zur Schule gehen möchten, werde man diesen Wunsch berücksichtigen.

Momentan will Paul, der Fußball im Verein spielt und bei den Großenhainer Speedskatern trainiert, allerdings noch nicht. „Mir geht es doch gut und ich lerne eigentlich ständig. Heute früh habe ich Lego gebaut. Wissen Sie, dass die Flügel des Gleiters im rechten Winkel stehen?“