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Pirna: Warum diese Frau niederkniet, um einen besonderen Stein zu putzen

Marita Richter säubert regelmäßig Stolpersteine, die an die Opfer während der NS-Zeit erinnern. Dafür hat sie mehrere Gründe.

Von Mareike Huisinga
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Marita Richter säubert einen Stolperstein, der zum Gedenken an Martin Kretschmer aus Pirna gesetzt wurde.
Marita Richter säubert einen Stolperstein, der zum Gedenken an Martin Kretschmer aus Pirna gesetzt wurde. © Daniel Schäfer

Es ist noch kalt an diesem Mittwochmorgen. Wirklich kalt. Atmet man aus, sieht man seinen Hauch. Dennoch nimmt Marita Richter Schwamm und Kalkreiniger in die Hand und geht in Richtung Villa Spitzner auf dem Gelände der Heilpädagogischen Schule Bonnewitz. Sie kniet nieder. Dann sprüht sie etwas Kalkreiniger auf den Schwamm und putzt damit den Stolperstein sauber, der für Martin Kretschmer am Standort verlegt wurde. Der Heilpädagoge wurde 1942 von den Nationalsozialisten ermordet. Man darf ihn nicht vergessen.

Solche Putzaktionen unternimmt Marita Richter mindestens achtmal im Jahr. Gebeten hat sie keiner darum. "Aber es ist mir persönlich wichtig", sagt die 42-Jährige, die als Gärtnerin an der Bonnewitzer Schule arbeitet. Nicht nur diesen Stolperstein putzt sie, sondern auch andere Gedenksteine, die für die Opfer während der NS-Herrschaft in Pirna und Umgebung gelegt wurden. "Manchmal bemerke ich dabei, dass vor mir schon jemand hier war und Blumen abgelegt hat. Es ist immer ein schönes Gefühl zu wissen, auch anderen Menschen gehen die tragischen Schicksale der Ermordeten während der Nazizeit nahe." Folglich ist sie nicht alleine.

Den Ermordeten nahe sein

Die Putzaktion dauert lediglich fünf Minuten pro Stein. Sinnvoll investierte Zeit, davon ist Marita Richter überzeugt. "Denn die Steine sind oft verschmutzt, sodass sie sich nicht von der Umgebung mehr abheben und oft übersehen werden", sagt sie.

Für ihr ehrenamtliches Engagement hat sie drei Gründe. "Ich putze für mich selber." So würde sie dabei intensiv reflektieren, was in der Zeit spätestens ab 1933 bis 1945 in Deutschland geschehen ist. In ihrem Kopf entstehen Bilder von den Ermordeten. Sie denkt darüber nach, was die Betroffenen gefühlt, welche Ängste sie bei der Deportation gehabt haben , was die Nachbarn gedacht haben müssen. Haben diese weggeguckt? Oder hat vielleicht doch jemand versucht, gegen das Unrecht einzuschreiten? Wie war es damals?

Marita Richter selber hat sich intensiv mit dem Schicksal von Martin Kretschmer beschäftigt, forschte im Archiv und ist dem Toten somit beim Säubern des Steines besonders nah. "Wichtig ist für mich auch, dass es nicht nur bei der Phrase 'Nie wieder' bleibt, sondern, dass wir uns aktiv dafür einsetzen, dass es zu solch einer Menschenverachtung nicht wieder kommt", führt Richter aus.

Andere aufmerksam machen

Genau diese Ansicht ist der zweite Grund für ihr Engagement. Sie will anderen Menschen zeigen, dass es auch in Pirna Mord und Vernichtung gegeben hat, nicht nur in den großen Konzentrationslagern, wie zum Beispiel in Auschwitz. "Somit werden auch Kinder auf die Stolpersteine aufmerksam und können mit Erwachsenen darüber sprechen und vor allem Fragen stellen. Ich denke, ebenso Touristen in Pirna sollten es wissen und auf die Tötungen der Nationalsozialisten in der Kleinstadt Pirna aufmerksam gemacht werden", sagt Marita Richter.

Der aber vermutlich wichtigste Grund für ihr Engagement ist, dass sie die Steine für die Getöteten selber putzt. "Ihnen wurde alles genommen. Besitz, Familie, Mitmenschen, Würde und schließlich das Leben."

Richter empfindet das Knien beim Putzen der Stolpersteine als Verbeugung vor den Ermordeten, als Wertschätzung. "Wenn man sieht, wie viele Steine manchmal nebeneinanderliegen, unter anderem in Dresden, wird einem deutlich, dass ganze Familien vernichtet wurden. Sie haben keinen Grabstein. Deshalb ist es an uns, an sie zu erinnern." Für sie ist das Niederknien keine Demütigung, sondern vielmehr Demut, Achtung und Mitempfinden.

Jetzt erhebt sie sich wieder. Der Gedenkstein für Martin Kretschmer glänzt in der Frühlingssonne und ist nicht zu übersehen. Für Marita Richter steht bereits fest: "Ich komme wieder, um erneut zu putzen"

Das sind die vier bisherigen Stolpersteine in Pirna:

Carl Arthur Pautzsch

Standort: Rosa-Luxemburg-Straße 9

  • Pautzsch wurde im April 1896 in Dresden geboren. Seine Eltern betrieben einen Lebensmittelhandel und von 1899 bis 1918 eine Schankwirtschaft an der Alaunstraße in Dresden-Neustadt.
  • Pautzsch hatte fünf Geschwister und schlug eine musikalische Laufbahn ein. Er wohnte in Heidenau sowie in Pirna. Am 26. September 1939 wurde er in Dresden wegen "Unzucht mit Männern" zu einem Jahr Haft verurteilt, die er zunächst im Gefängnis Zwickau verbringen musste.
  • Im März 1940 wurde er ins Gefangenenlager II Rodgau nach Hessen gebracht. Im August entließ man Pautzsch. Er kehrte nach Heidenau zurück, zog dann aber nach Pirna in die Kamenzer Straße 9, das ist heute die Rosa-Luxemburg-Straße. Anfang 1941 wurde er ins KZ Sachsenhausen eingeliefert, wo er am 4. April 1941 ermordet wurde.

Karl Emil Heinrich

Standort: Niedere Burgstraße 6

  • Karl Emil Heinrich wurde am 6. April 1892 in Pirna geboren und evangelisch getauft. Sein Elternhaus war auf der Niederen Burgstraße 6. 1939 lebte der 47-jährige Ledige in Braunschweig und war Zementarbeiter.
  • Am 24. Juni 1939 wurde er ins Gefängnis Braunschweig gebracht und am 5. September 1939 verurteilte ihn das Landgericht Braunschweig nach §175a, Ziffer 3 (homosexuelle Handlungen mit Männern unter 21 Jahren), zu einem Jahr und drei Monaten Zuchthaus und zu drei Jahren Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Zur Strafverbüßung transportierte man ihn am 20. Oktober 1939 in das Zuchthaus Celle. Laut seiner Häftlingskarte "entließ" man ihn zu seinem Strafende am 22. September 1940 angeblich nach Hannover.
  • Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass man ihn in die Freiheit entließ. Vielmehr ist er zwar aus dem Bereich der Justiz "entlassen", aber wahrscheinlich der Polizei Hannover übergeben worden, denn etwa im Februar 1941 überführte die Polizei ihn in das KZ Sachsenhausen, wo er die Häftlingsnummer 35.701 erhielt. Emil Heinrich verstarb am 11. April 1941 im KZ Sachsenhausen im Alter von 49 Jahren.

Martin Kretschmer

Standort: Martin-Kretschmer-Str. 3, vor der Villa "Haus Spitzner" in Bonnewitz

  • Martin Kretschmer war Heilpädagoge. Auf der Martin-Kretschmer-Straße 3 in Pirna befindet sich die Heilpädagogik Bonnewitz.
  • Im Sommer 1935 kam Kretschmer nach Pirna, um eine Einrichtung für geistig behinderte Menschen zu eröffnen. Dazu kaufte er die alte Villa in Bonnewitz, die im Besitz der Stadt Pirna war.
  • Fast sechs Jahre gelang es ihm, das Haus zu führen und so auch Menschen eine Bleibe zu geben, die von den Nazis verfolgt wurden. Dazu gehörte neben vielen Kindern auch die Berliner Geigerin Gerda Bischof, die in Bonnewitz als Lehrerin arbeiten konnte.
  • Im Sommer 1941 geriet Martin Kretschmer dann ins Visier der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), die ihn in Bonnewitz verhaftete und ins Polizeigefängnis Dresden brachte.
  • Von dort aus deportierten sie ihn ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Im Außenlager Klinkerwerk starb er dann am 19. Februar 1942. Die Einrichtung selbst wurde enteignet und der Hitlerjugend übergeben, die das Heim als Kriegswaisenhaus führte. Heute ist es wieder ein Ort für Kinder und Jugendliche mit besonderem Hilfebedarf, die Straße dahin trägt in Erinnerung an den mutigen Pädagogen den Namen „Martin-Kretschmer-Straße“.

Pfarrer Dr. Benno Scholze

Standort: Dr. Wilhelm-Külz-Straße 3

  • Der am 16. Oktober 1891 im sorbischen Radibor geborene Priester war von 1938 bis 1966 Pfarrer in Pirna. Am 1. Juli 1938 wurde Scholze in sein Amt als Pfarrer in der Elbestadt eingeführt.
  • Bereits in seiner vorhergehenden Pfarrgemeinde Markranstädt, die er von 1926 bis 1937 betreute, galt er als Gegner des Nationalsozialismus. Er wirkte auch als Leiter der Rundfunkarbeitsgemeinschaft Deutscher Katholiken beim Mitteldeutschen Rundfunk des Reichssenders Leipzig sowie als Mitbegründer und Schriftleiter des "St. Benno-Blattes", einer Zeitschrift des Bistums. Das alles brachte ihm jahrelange Beobachtung durch die Gestapo und häufige Konflikte mit der NS-Sendeleitung ein.
  • In Pirna wurde Scholze während der NS-Zeit der Mittelpunkt der katholischen Widerstandsbewegung. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges erhielt er die Genehmigung zur Seelsorge für Kriegsgefangene. So gehörte zu seinen Pflichten als Pfarrer die seelsorgerische Betreuung der Kriegsgefangenen auf Burg Hohnstein sowie französischer Gefangenen auf der Festung Königstein.
  • Am 15. Januar 1941 verhaftete ihn die Gestapo und lieferte ihn in das Polizeigefängnis Dresden ein, am 4. April wurde er als "des Hochverrats verdächtiger Staatsfeind" in das KZ Dachau "überstellt" und im berüchtigten "Priesterblock" 26 inhaftiert.
  • Am 12. Juli 1945 nahm Benno Scholze seine Tätigkeit als Priester wieder auf und übte sie bis zu seinem Tod am 4. August 1966 in Pirna aus.

Die zehn mal zehn Zentimeter großen Stolpersteine sind eine Idee des Kölner Künstlers Gunter Demnig. Mit im Boden verlegten kleinen Gedenktafeln, sogenannten Stolpersteinen, soll an das Schicksal der Menschen erinnert werden, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Die quadratischen Messingtafeln werden meist vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern der NS-Opfer niveaugleich in das Pflaster des jeweiligen Gehwegs eingelassen. Auf ihnen steht der Name des Opfers sowie die Lebensdaten.