Im vergangenen Jahr sah sich das Unternehmen mit einer speziellen Notlage konfrontiert. Neue Kunststoff-Spitzgussteile waren entwickelt, vor allem für den Bereich Elektromobilität in Autos, wie Sicherungsboxen oder Hochvolt-Stecker. Alles sollte rasch produziert werden. Doch wenn solche neuen Teile in Serie gehen, läuft nicht gleich alles vollautomatisch. Zu Beginn ist noch viel Handarbeit nötig, man brauchte auf einen Schlag 20 bis 30 neue Mitarbeiter. „Wir hatten aber große Probleme, Arbeitskräfte für uns zu gewinnen“, sagt Guido Glinski, Geschäftsführer der Fahrzeugelektrik Pirna (FEP).
Dabei spielt der Betrieb schon in der oberen Liga und ist weit über die Stadt hinaus bekannt. Die Fahrzeugelektrik Pirna ist das größte produzierende Unternehmen in Pirna, über 450 Mitarbeiter am Standort Pirna, 650 Beschäftigte weltweit, rund 100 Millionen Euro Jahresumsatz, Ausstoß über zwei Milliarden Teile jährlich, 700 Kunden in 60 Ländern, die Exportrate liegt bei 75 Prozent. Doch auch ein Werk in dieser Größenordnung bekommt den derzeitigen Fachkräftemangel zu spüren. „Wir wussten zunächst nicht, wo wir die benötigten Mitarbeiter herbekommen sollten“, sagt FEP-Sprecher Daniel Rabe, der zugleich Personalchef ist.
Inzwischen ist das Arbeitnehmer-Defizit ausgeglichen, mithilfe eines Modells, das auf viel Eigeninitiative basiert – und doch eines, was laut des sächsischen Regierungschefs Schule machen und anderen Betrieben als Vorbild dienen könnte, sofern man noch bürokratische Hürden abbaut. Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) ist am Montag nach Pirna gereist, um das Pilot-Projekt einem Praxis-Check zu unterziehen. „Ich will wissen“, sagt er, „wie das in der Realität so läuft.“
Ein Übersetzer als Arbeitsvermittler
Was da läuft und dass es überhaupt läuft, ist dem Zufall zu verdanken – und engagierten Menschen, die dieses Projekt forcierten, das hat auch viel mit einer früheren FEP-Geschäftsführerin zu tun. Evelyn Duarte Martinez arbeitet seit 1986 bei der FEP, 25 Jahre davon in leitender Tätigkeit. 2022 zog sie sich aus der Geschäftsführung zurück, ist dem Unternehmen aber weiterhin in beratender Funktion als „Senior Consultant“ verbunden. Sie ist verheiratet mit Gerardo Duarte Martinez, er stammt aus Kuba und spricht fließend Spanisch. Und so kam es, dass er der FEP auf einmal Arbeitskräfte vermittelte.
Gerardo Duarte Martinez ist seit einiger Zeit Rentner. 2022 beschloss er, ehrenamtlich für die Awo als Übersetzer zu arbeiten. Der 67-Jährige dachte so an ein, zwei Aufträge pro Woche, doch längst ist er täglich im Einsatz, gibt Deutschkurse, begleitet Menschen zu Behörden oder zum Arzt. Die meisten Menschen, die er auf diese Weise betreut, stammen aus Venezuela. Asylbewerber, die meisten von ihnen wohnen in Dürrröhrsdorf-Dittersbach und in Gersdorf.
Sie verließen ihr Land, weil der Staat nicht mehr funktioniert, weil die Verwaltung von mafiösen Strukturen durchzogen ist, weil sie sich dort nicht mehr sicher fühlen. Unter ihnen sind hochgebildete Leute, Juristen, Ärzte, Ingenieure, die sich in der Fremde ein neues Leben aufbauen wollen. Was sie aber partout nicht wollen, wenn sie angekommen sind, ist nur herumzusitzen - sie wollen arbeiten. Sie fragten ihren Übersetzer Gerardo Duarte Martinez, ob er ihnen Stellen vermitteln könnte. Er fühlte bei seiner Frau vor, und so kam es, dass die FEP vor anderthalb Jahren den ersten Venezolaner einstellte. Dabei blieb es nicht.
Mehr Integration über den Arbeitsmarkt
Inzwischen beschäftigt das Unternehmen 24 Mitarbeiter und einen Azubi aus Venezuela – ein möglicher Weg, um das Arbeitskräfte-Defizit zu kompensieren, was sich noch weiter verschärfen wird. Laut Kretschmer brauche man in Sachsen bis zum Ende dieses Jahrzehnts rund 100.000 Arbeitskräfte, um den Mangel auszugleichen. Er lobte das Pirnaer Projekt, dass in diesem Fall sehr dem eigenen Tun zu verdanken ist. „Wenn sich das herumspricht, haben vielleicht andere Betriebe ähnliche Ideen“, sagt der Ministerpräsident. Er will sich unterdessen dafür einsetzen, dass Asylbewerber, die hier eine feste Arbeit haben und bleiben wollen, auch bleiben dürfen.
Für die FEP war der Weg nicht ganz problemfrei. So wurde das Unternehmen erst mit dem Venezuela-Projekt auf die ganzen zuständigen Behörden und Ämter aufmerksam – von denen sich die FEP allerdings schon im Vorfeld Infos gewünscht hätte, wie man ein solches Modell angeht. Laut der FEP müsse man künftig die Betriebe noch stärker mit arbeitssuchenden Asylbewerbern und den Arbeitsämtern vernetzen, die nun ihren Schwerpunkt auch auf die Vermittlung von Asylbewerbern legen sollten. Hinzu kam, dass Asylbewerber während des laufenden Verfahrens nicht umziehen dürfen – sie aber von den Dörfern aus Probleme hatten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schicht zu kommen. Einige von ihnen schliefen daher nachts heimlich im Betrieb, um am nächsten Morgen pünktlich da zu sein.
Nach Aussage von Glinski müsse man daher solche Prozesse entbürokratisieren. Kretschmer sagte, man müsse jetzt schauen, ob die eingeschlagenen Wege noch die richtigen sind. Möglicherweise müsse künftig die Integration von Asylbewerbern über den Arbeitsmarkt die Hauptrolle spielen – statt sie zunächst nur von einem Deutschkurs zum nächsten zu schicken. Das Modell der FEP sei dafür ein Vorzeige-Projekt.
Gekommen, um zu bleiben
Für das Unternehmen ist das Venezuela-Projekt einer von vielen Wegen, um das Arbeitskräfte-Defizit auszugleichen. Längst steht das Thema Fachkräftebedarf bei der FEP zentral im Fokus, zumal bald weitere neue Produkte kommen, für die man wieder neue Arbeitskräfte braucht, um sie herzustellen. „Wir sind aber erst einmal sehr froh, dass wir das Problem aus dem vergangenen Jahr mit den Mitarbeitern aus Venezuela abfedern konnten“, sagt Rabe. Insgesamt sei diese Diversität sehr positiv, weil sie das ganze Unternehmen bereichere. Die neuen Mitarbeiter seien hoch motiviert und sehr lernschnell und zeigten eine große Einsatzbereitschaft.
Für eine von ihnen, Welma Josibel Cordero Molina, eigentlich Rechtsanwältin, ist das selbstverständlich. Zehn Monate habe sie in Deutschland auf einen Arbeitsplatz gewartet, aber sie wollte nicht nur rumsitzen, sie wollte etwas tun, sie wollte arbeiten. Sie habe sich bewusst für Deutschland entschieden, sie wollte eine neue Kultur kennenlernen, sie schätzt bei den Deutschen vor allem deren Disziplin. „Wir sind hierhergekommen und wollen arbeiten“, sagt sie, „weil wir hierbleiben wollen und damit wir hierbleiben dürfen.“