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Allein im Rampenlicht

Rainer Gruß verabschiedet sich nach 30 Jahren vom Bautzener Theater – mit einer der schönsten Liebeserklärungen.

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© Uwe Soeder

Von Miriam Schönbach

Bautzen. Höchstwahrscheinlich ist dieses Stück eine der schönsten Liebeserklärungen an das Theater. Seit 22 Jahren wirft Rainer Gruß beim Monolog „Die Sternstunde des Josef Bieder“ mit viel Humor einen Blick hinter die Kulissen des schillernden Theaterbetriebs. In der Rolle des Requisiteurs steht er einem ausverkauften Haus gegenüber, obwohl keine Vorstellung angesetzt ist. Um das Publikum nicht zu enttäuschen, beginnt er aus seinem eigenen Leben und von der Bühne zu reden. Am 25. Mai ist die Inszenierung zum letzten Mal in Bautzen zu sehen. Und auch der Schauspieler selbst sagt „Adieu“.

Melancholie begleitet Rainer Gruß schon beim Gedanken. Noch einmal wirft einen Blick auf die unzähligen Zitate im Foyer des Bautzener Theaters. Meist reicht nur dieser eine Satz an der Wand, um die Erinnerungen an die Inszenierungen zurückzubringen. Mehr als 150 Rollen hat der 65-Jährige gespielt. „Ich habe einen der schönsten Berufe, aber er verlangt viel von einem selbst. Und man muss viel opfern, wenn man etwas erreichen will“, sagt er ernst. Dann setzt er sich in den Theatergarten. Eine Amsel beschwert sich lautstark über den Eindringling.

Als Kjeld beim Theatersommer dabei

Rainer Gruß kommt gerade aus einer Probe. Als Kjeld aus der Olsenbande wird er im Juni und Juli noch einmal beim Bautzener Theatersommer zu erleben sein. Jetzt aber atmet er erst einmal durch und genießt die Pause im langen Theatertag. In wenigen Stunden muss er wieder voll konzentriert sein. „Neulich hatte ich zum ersten Mal einen Hänger auf der Bühne. Du denkst es vergehen Stunden, obwohl es nur Bruchteile von Sekunde sind“, sagt der Schauspieler.

Ans Deutsch-Sorbische Volkstheater kommt der gebürtige Meißener 1988. Die Kindheit verbringt er im nahen Brockwitz. Der Großvater Max Gruß ist ein bekannter Kohlehändler in Dresden. Zu seinen Kunden gehört seinerzeit auch der Karl-May-Verlag in Radebeul. „Anstelle des Trinkgelds bekam er Bücher aus den gesammelten Werken“, erinnert sich Rainer Gruß. Der Junge taucht ein in die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand, obwohl die Bände in alter deutscher Schrift verfasst sind. Häufig muss er als Halbwüchsiger aber auch dem Opa beim Kohleschleppen zur Hand gehen, erinnert sich Rainer Gruß.

In dieser Zeit entdeckt der Heranwachsende die Schultheatergruppe. In der achten Klasse probt der Lehrer mit den Jugendlichen das Abenteuerstück „Die Schatzinsel“. Rainer Gruß bekommt die Rolle des einbeinigen Schiffskochs John Silver. Die Partie ist ihm wie auf den Leib geschneidert. Schließlich träumt er davon, Smutje auf einem Schiff zu werden. Seine Unterlagen reicht er in der 10. Klasse im Büro der Deutschen Seereederei in Dresden ein. Die Leidenschaft für das Kochen hat ihm übrigens die Großmutter weitergegeben, die in der Kantine einer Lederfabrik arbeitete. Aber der Vater hat andere Pläne für seinen Sprössling. Auf sein Geheiß macht Rainer Gruß eine Lehre zum Betonstein- und Terrazzo-Facharbeiter. Nebenbei heuert er beim Amateurtheater „Heiterer Blick“ des VEB Druckmaschinenwerk Planeta in Radebeul an. In den 1970er-Jahren entwickelt sich die Gruppe zum größten und erfolgreichsten Jugendtheater der DDR.

Goldmedaille mit Antigone

Mit der Aufführung der „Antigone“ holen sich die jungen Mimen 1976 bei den Arbeiterfestspielen eine Goldmedaille. Für die Ausbildung der Laien engagiert der Betrieb professionelle Schauspieler, ermöglicht Sprecherziehung und Probelager. „Ich merkte, die Schauspielerei steckt in mir drin“, sagt Rainer Gruß.

Also macht er bei der Lehre „blöde“. Zu Hause rebelliert er mit der Mutter gegen den Willen des Vaters und stellt irgendwann die Eltern vor vollendete Tatsachen. Ein Jahr nach dem Antigone-Erfolg bewirbt er sich an der Schauspielschule in Berlin. Er besteht das Vorsprechen, die Klasse ist aber schon voll. Deshalb wartet er ein weiteres Jahr auf seinen Studienbeginn. „Ich war der 33. aus unserer Radebeuler Truppe, der die Leidenschaft zum Beruf gemacht hat“, sagt der Bautzener.

Zu jeder Rolle eine Notiz

Rainer Gruß legt eine Kladde auf den Tisch, ein kleines Büchlein in A 5. Zu jeder Rolle hat er darin eine kurze Notiz gemacht. Der erste Eintrag ist aus dem Jahr 1978 als Student im zweiten Studienjahr. Zu seinem Semester gehören Dagmar Manzel, Sylvester Groth und Marijam Agischewa. Alle drei sind bis heute populäre TV-Schauspieler. Den jungen Sachsen verschlägt es nach dem Ende seines Studiums nach Senftenberg. Die Studenten wetteifern beim Intendantenvorspiel – alle Theaterchefs kommen dazu in Berlin zusammen – um einen Platz auf der Bühne. „Aussuchen konnte man da nicht viel, man wurde dorthin geschickt, wo es gesellschaftlich notwendig war.“

Rainer Gruß genießt die Zeit am Theater der Bergarbeiter. „Es war ein kleines Haus ohne eigene Regisseure. Die kamen oft als Gäste aus Berlin.“ Nach acht Jahren am Haus schlägt ihm ein sorbischer Kollege vor, sich am Bautzener Theater vorzustellen. Er blättert wieder in der Kladde. Am 20. Januar 1989 feiert er hier mit dem Stück „Der Revisor oder Die Katze aus dem Sack“ Premiere. In der Satire geht es um Amtsmissbrauch, Veruntreuung und Bestechung, Monate vor der politischen Wende sind die Hinweise auf die DDR-Obrigen unübersehbar. Zehn Monate später fällt die Mauer.

Neue Möglichkeiten eröffnen sich – auch für die Schauspieler. In die Ferne zieht es Rainer Gruß dennoch nicht. Stattdessen spielt er am Bautzener Theater Komödien, Klassiker und Dramen, ist im Schauspiel und im Musiktheater zu sehen. Besonders aber wachsen ihm die Solostücke ans Herz, wenn er „allein im Rampenlicht steht“. Dabei liebt der Schauspieler auch das Spiel im Ensemble. „Wir waren immer wie eine große Familie“, sagt er. Von ihr wie vom Publikum heißt es nun Abschied nehmen.

Doch der zweifache Vater und sechsfache Großvater freut sich auch über seine neuen Freiheiten. Auf den Fichtelberg will er steigen, auf der Elbe schippern, mit seinen Enkeln und der Familie Zeit verbringen, wunderbare Essen kreieren oder einfach nur die Seele baumeln lassen. Und sollte mal eine Vorstellung ausfallen, könnte Rainer Gruß bestimmt einspringen – um dem Theater als Requisiteur Josef Bieder eine Liebeserklärung zu machen.

„Die Sternstunde des Josef Bieder“ mit Rainer Gruß am 25. Mai um 19.30 Uhr im großen Haus des Bautzener Theaters zum 117. und letzten Mal. Tickets: 7 Euro.

www..theater-bautzen.de