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Als im Bautzner Gefängnis die Revolte ausbrach

Streiks, Ultimaten und Dachbesetzungen begleiten das Ende des DDR-Strafvollzugs. Vier Männer sind heute dankbar, dass dabei kein Blut geflossen ist.

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Gefangene auf dem Dach des Bautzener Gefängnisses, am 23. September 1990 fordern sie eine dritte Amnestie.
Gefangene auf dem Dach des Bautzener Gefängnisses, am 23. September 1990 fordern sie eine dritte Amnestie. © Archivfoto: SZ/Waltraut Kossack

Von Thomas Schade

Im Advent 1989 ist hinter den Backsteinmauern kaum etwas, wie es sein soll im geordneten Haftalltag. Im Gelben Elend, wie das Bautzener Gefängnis genannt wird, geht es drunter und drüber. An Fassaden flattern weiße Laken. „Freiheit für alle“, „Sofortige Amnestie“, „Weihnachten in Familie“, „SED-Moneten für Proleten“ ist da zu lesen.

In den Hafthäusern laufen Gefangene frei umher. Seit Wochen geht keiner zu den Werkstätten, um für Robur Zittau zu arbeiten, für Wittol Wachskerzen für den Export zu drehen oder Füller für Markant zusammenzuschrauben. Generalstreik ist angesagt. Dreiviertel der 1.800 Gefangenen weigern sich, zu essen und zu trinken. Sie erzwingen, was eigentlich unmöglich ist. Hochrangige Vertreter des DDR-Strafvollzuges kommen aus Berlin, um mit ihrem Streikkomitee zu verhandeln. Ein Oberst erklärt schließlich, dass er den Streik der Häftlinge akzeptiere. Im Klubraum, der Streikzentrale, formulieren die Gefangenen ihre Forderungen, verhandeln mit der Anstaltsleitung und koordinieren Aktionen. Sie haben Schreibmaschine und Megafon. Ergebnisse verkünden die Streikführer mit Lautsprecher auf dem Hof. Mit ohrenbetäubenden Reaktionen.

Im benachbarten Wohngebiet Gesundbrunnen hören die Bautzener in dieser Zeit bedrohliches „Surren“, wie es Hartmut Vogel nennt. Er wohnt dort. Seit einhundert Jahren leben die Bürger mit ihrem Gefängnis und seiner wechselvollen Geschichte. Aber so etwas haben sie noch nie erlebt. „Es war das Scheppern, das Gefangene erzeugten, wenn sie mit dem Besteck auf ihr Alugeschirr schlugen“, sagt Vogel. Immer wieder ist es zu hören, als wollten die Häftlinge auf sich aufmerksam machen.

„Wollten sie ja auch“, sagt Georg Kanig. Er ist Christ und 1989 im Bautzener Bürgerkomitee engagiert. Er hat vor allem mit Bautzen II zu tun, der MfS-Sonderhaftanstalt. Doch Kanig weiß, wie es in beiden Gefängnissen aussieht. „Im Grunde war Bautzen I im Dezember 89 in der Hand der Häftlinge.“ Bedienstete hatten Mühe, die Außentore zu sichern.

Zeitzeugen erinnern sich nach 30 Jahren in der Anstaltskapelle: Hartmut Vogel, Burckhard Schulze, Georg Kanig und Frank Hiekel (v.r.).
Zeitzeugen erinnern sich nach 30 Jahren in der Anstaltskapelle: Hartmut Vogel, Burckhard Schulze, Georg Kanig und Frank Hiekel (v.r.). © Thomas Schade

Zusammen mit Hartmut Vogel und Georg Kanig sitzen Pfarrer Burckhard Schulze und Frank Hiekel in der Anstaltskapelle und erinnern sich an die Zeit vor 30 Jahren. Pfarrer Schulze hat im Oktober in der Maria-Martha-Kirche die Gründung des Neuen Forums in Bautzen moderiert und ist eines Montags mit Demonstranten vor das Gelbe Elend gezogen. „Die Leute wollten wissen, was dahinter passiert“, sagt er. Frank Hiekel öffnet Vertretern der Kirche und des Neuen Forums das Tor.

Im Herbst 89 ist Hiekel Hauptmann im Gefängnis und seit Wochen im Gewissenskonflikt. „Die Verantwortlichen in Berlin waren auf Tauchstation gegangen, Bedienstete waren überfordert, auch wir mussten uns öffnen und einen Dialog mit den Bürgern beginnen“, erinnert sich Hiekel.

Polizei und Justiz haben die Wende in die Haftanstalt hineingetragen, als sie am 5. und 6. Oktober nachts mit Lkws 613 Demonstranten nach Bautzen brachten. Die Männer und Frauen waren zuvor am Dresdner Hauptbahnhof festgenommen worden. Die Anstalt ist voll belegt. Ein Teil muss auf Holzbänken in der Anstaltskapelle ausharren. „Für die Zuführungen gab es keine rechtliche Grundlage“, erinnert sich Hiekel. Das sei Willkür gewesen. „Die Leute hatten im Gefängnis nichts zu suchen.“

Was ist Recht, was Unrecht?

Zu dieser Zeit muss das jeder für sich entscheiden. Hiekel gehört mit den Kirchenvertretern und Bürgerrechtlern zu denen, die verhindert haben, dass die Gewalt eskaliert. Nach mehreren Überprüfungen hat ihn die sächsische Justiz übernommen. Er war in anderen Gefängnissen tätig und ist seit einiger Zeit wieder in der JVA Bautzen.

Nach den rechtswidrigen Zuführungen bleibt die Unruhe. Erst legen Häftlinge in der Küche die Arbeit nieder. Am 25. Oktober fliehen drei Gefangene in der Nachtschicht aus einer Werkhalle. Ein Wachposten schießt auf sie. Dennoch klettern sie über die hohe Außenmauer. Alle werden wieder eingefangen. Der letzte von Soldaten an der polnischen Grenze, er wollte nach Warschau, in die deutsche Botschaft.

Im Dezember 1989 herrschen in allen großen Haftanstalten der DDR ähnliche Zustände. Massenausbrüche sind zu befürchten, erst recht nach der Grenzöffnung am 9. November. Unter diesem Druck beschließt der DDR-Staatsrat eine Amnestie.

Den Protokollen des Streikkomitees im Bautzener Gefängnis ist zu entnehmen, dass der Jubel darüber nach wenigen Stunden verflogen ist. Denn begünstigt sind lediglich Gefangene, die wegen des sogenannten Republikflucht-Paragrafen 213 einsitzen. „Aber alle verlangten eine Überprüfung ihrer Urteile“, sagt Hiekel. Diese Einzelfallprüfung habe der Chef des DDR-Strafvollzuges zugesagt, aber nie eingelöst.

So spitzen sich die Proteste nach einer kurzen Weihnachtsruhe wieder zu. Anfang 1990 zerstören Gefangene fast alle Durchgangsschlösser und fordern nun ultimativ, dass auch ihre Urteile überprüft werden. Es wird erneut gestreikt. Um die Lage zu entspannen, schlagen Seelsorger und Bürgerrechtler vor, einen Runden Tisch einzurichten. Hiekel, der die Anstalt in dieser Zeit leitet, stimmt zu. Am 19. März 1990 sitzen Gefangene und Vertreter der Anstaltsleitung zusammen, moderiert unter anderem von Pfarrer Burckhard Schulze.

Häftlinge sind zu allem bereit

Am Vortag, dem 18. März, haben die DDR-Bürger die neue Volkskammer gewählt und den Zug Richtung Deutsche Einheit unter Volldampf gesetzt. Doch in der Regierung versuchen „Hardliner“ den Strafvollzug nach alten Mustern zu stabilisieren. Bürgerinitiativen sollen aus den Anstalten gedrängt, Streikkomitees aufgelöst werden.

Da eskaliert die Situation in Bautzen erneut. Auslöser ist ein Vorschlag von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Er schlägt eine Amnestie für MfS-Mitarbeiter vor. „Das brachte das Fass zum Überlaufen“, erinnert sich Hiekel. Anders als zuvor, als die Losung „Keine Gewalt“ respektiert wurde, sind die Häftlinge am 28. März zu allem bereit. 34 Männer schließen sich nachmittags in der Lackiererei des Landmaschinenbaus Fortschritt ein und fordern die Generalamnestie. Klaus S., einer von ihnen, sagt in der Nacht der SZ: „Wir werden hingehalten, für uns will keiner Entscheidungen treffen, aber für die Großen soll alles mit einem Federstrich erledigt sein.“

Frank Hiekel erinnert sich: „Sie drohten, alles anzuzünden, wenn die Amnestie versagt wird und die Polizei anrückt.“ In der Lackiererei befinden sich Fässer mit Farbe und brennbaren Verdünnungsmitteln sowie ein Tauchbecken, gefüllt mit mehr als eintausend Litern Lackfarbe. „Eine Explosion hätte Menschenleben gefordert und ein Loch in die Außenmauer gerissen.“

Als in der Nacht erneut hohe Offiziere aus Berlin in Bautzen eintreffen, verhandeln drei Vertreter der Landeskirche und der zuständige Kreisstaatsanwalt mit den Protestierern. Auch ein Reporter der SZ und Erzieher der Anstalt sind dabei. Entgegen der Weisung aus Berlin wird den Häftlingen Straffreiheit zugesichert. Pfarrer Schulze riskiert sein Leben, betritt die Lackiererei und stellt sich den Gefangenen gegenüber. „Ich kannte fast alle und sicherte zu, dass ihre Urteile überprüft würden“, erinnert er sich. Sie vertrauen dem Pfarrer. Er überredet sie, aufzugeben. Draußen liegen Scharfschützen und die 9. Kompanie in Stellung, die Antiterrorabteilung der Volkspolizei, heute vergleichbar mit der GSG 9.

Die Beobachter aus Berlin stellen den friedlichen Ausgang als Desaster dar. Tage später taucht eine Kontrollgruppe aus Berlin in Bautzen auf. Sie überprüft nicht die Urteile der Protestierer, sondern untersucht den Haftalltag. Das Ergebnis: „Alles, was bei der Demokratisierung des Strafvollzuges auf dem Weg war, sollte rückgängig gemacht werden“, sagt Hiekel. „Die wollten nach der demokratischen Volkskammerwahl zurück zu alten Verhältnissen.“ Die Bürgerinitiative und Pfarrer Schulze sprechen den Vertretern aus Berlin die Kompetenz ab. Sie geben eine Pressekonferenz und veröffentlichen Tage später den „Ruf aus Bautzen“. Es ist der Aufruf, endlich auch den Strafvollzug zu reformieren. In einem Fernschreiben an den Innenminister und an den Ministerpräsidenten erklären die Bürgerrechtler, dass die Aktionen der Berliner Kontrollkräfte den Konflikt weiter „bedrohlich“ eskalieren. Innenminister Peter-Michael Diestel weist den Dresdner Polizeichef an, im Bautzener Gefängnis hart durchzugreifen.

Sprung vom Schornstein als letzter Ausweg

Dennoch verändert sich der Strafvollzug im Sommer. Militärische Umgangsformen fallen weg, ebenso ideologische Erziehungsversuche. Dafür entwickelten sich Gefangenenseelsorge, Sozialdienst und Straffälligenhilfe. In Bautzen entsteht der Verein Brücke, der auch Gefangene betreut. Stadtverordnete und Bürgerrechtler rufen den „Beirat für die JVA Bautzen“ ins Leben, der später vom Justizministerium anerkannt wird. Georg Kanig leitet ihn bis heute.

Dennoch fühlen sich die Häftlinge, die noch in Bautzen einsitzen, allein gelassen. Der Tag der deutschen Wiedervereinigung, der 3. Oktober, naht, aber die versprochene Einzelfallprüfung findet nicht statt. „Sie fühlten sich abgehängt, und wir konnten nichts dagegen tun“, sagt Frank Hiekel. So revoltieren im August 1990 erneut Gefangene in DDR-Haftanstalten. Von ursprünglich fast 25.000 Gefangenen sitzen noch 4.250 ein. Die Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach schlägt eine Amnestie anlässlich der Deutschen Einheit vor, wird aber vom amtierenden DDR-Justizminister Manfred Walther am 20. September ausgebremst. Der informiert, dass nur noch Schwerverbrecher in Haft säßen, die nicht amnestiert werden könnten. Die Äußerung ist falsch und entfacht den Zorn der Häftlinge. Bautzener Gefangenensprecher verlangen eine Entschuldigung von Walther.

Noch am selben Tag steigt Frank S. in Bautzen auf den 40 Meter hohen Anstaltsschornstein. Er sitzt wegen Ladendiebstahls eine achtmonatige Haftstrafe ab. Der 25-Jährige hat im Mai ein Gnadengesuch an die Volkskammer geschickt und keine Antwort erhalten. „Nun drohte er, vom Schornstein zu springen, eine reine Verzweiflungstat“, sagt Hiekel. Zwei Tage später verschanzen sich in Bautzen achtzehn Häftlinge auf den Dächern zweier Hafthäuser. Alle drohen zu springen, sollte es vor dem 3. Oktober keine Amnestie geben.

„Wäre es schiefgegangen, wäre ich heute nicht hier“

Kurz vor dem historischen Tag streitet die DDR-Regierung in Berlin über eine Amnestie. Regierungschef und Justizminister wollen die Einzelfallprüfung, die auch von Bonn befürwortet wird. Der Innenminister sorgt sich um die Sicherheit in den Haftanstalten und will eine begrenzte Amnestie. Am 24. September tagt das Präsidium der Volkskammer in einer Sondersitzung. Eigentlich sollen die Einheitsfeiern besprochen werden. Doch die Ereignisse zwingen zu einer Debatte über eine dritte Amnestie.

Ein denkwürdiger Termin. Aus Bautzen kommen auf der Sitzung gleich zwei Männer zu Wort. Anstaltspfarrer Frieder Wendelin und Peter B. Der junge Mann kann sich schon vor der Sitzung unbehelligt der Volkskammerpräsidentin nähern. Christine Bergmann-Pohl soll sichtlich überrascht gewesen sein, als er sich vorstellt – als Gefangenensprecher aus Bautzen. In der Sondersitzung darf auch Häftling Peter B. ans Mikrofon, schildert die Lage in Bautzen und fordert nachdrücklich einen Straferlass, weil die bisherigen Amnestien überstürzt und inkonsequent gewesen seien.

Noch am Abend zeigt sich Bergmann-Pohl im Fernsehen empört, erklärt, dass die Volkskammer von zuständigen Ministerien unzureichend und zum Teil falsch informiert worden sei. Sie macht weitere Zugeständnisse und bittet öffentlich, die Proteste einzustellen. Die dritte Amnestie ist der letzte Beschluss, den die DDR-Volkskammer am 28. September 1990 fasst.

Heute ist von den Ereignissen vor 30 Jahren kaum etwas zu sehen. Besucher der JVA begegnen modernen Sicherungsanlagen, weitläufigen gepflegten Außenanlagen mit viel Grün und Kunst zwischen den Hafthäusern. Drinnen überraschen die hellen Flure und blitzblanke Fußböden. Die Gefängniskapelle ist restauriert und lädt regelmäßig zu Andachten ein. Der Freistaat habe viel Geld investiert, um aus dem Areal eine moderne Haftanstalt zu machen, sagt Anstaltsleiter Hiekel.

Die Akteure von damals schmunzeln heute über ihren Handstreich, einen Gefangenen in die Volkskammer zu schicken. Das dürfte einmalig sein in der deutschen Parlamentsgeschichte. „Wäre es schiefgegangen, wäre ich heute nicht hier“, sagt Hiekel. Georg Kanig fügt hinzu: „Als wir 1989 antraten, wussten wir, dass demokratische Reformen am Strafvollzug nicht vorbeigehen durften.“ Für ihn ist es eine schicksalhafte Fügung und ein Segen, dass dabei reformwillige Bedienstete, besonnene Gefangene und engagierte Bürger die Akteure waren. Es sagt: „Nur deshalb verlief alles ohne Blutvergießen.“

Zum Weiterlesen >> Birger Dölling, Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung <<