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"Ich will noch nicht nach Deutschland ziehen"

Martin Cerny pendelt als Arzt von Tschechien nach Sachsen. Seine Regierung bereitet ihm Sorgen. Auch, weil sie ihn an seiner Arbeit hindern wollte.

Von Franziska Klemenz
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Martin Cerny arbeitet als Arzt am Erzgebirgsklinikum in Annaberg-Buchholz.
Martin Cerny arbeitet als Arzt am Erzgebirgsklinikum in Annaberg-Buchholz. © privat

Krankenhäuser sehen entweder altehrwürdig oder praktisch aus. Viel dazwischen gibt es nicht. Schön auf eine schnörkelige Weise oder so nüchtern, wie moderne Architekten es dem Auge eben zumuten können. Martin Cerny sitzt in einem Gebäude der zweiten Art und erzählt per Telefon von seiner Situation. Blau gerahmte Fenster pflastern eine Fassade aus knochenfarbenem Putz, glatte Säulengänge führen im Erdgeschoss entlang der Rasenflächen. Seit fünf Jahren arbeitet Martin Cerny in der Abteilung Innere Medizin am Erzgebirgsklinikum in Annaberg-Buchholz.

Als Arzt gehört der 34-Jährige zu den wenigen Pendlern, die aus Tschechien noch nach Sachsen dürfen. Spätestens als die letzten europäischen Regierungen einsahen, dass Corona wirklich ein bedrohliches Virus ist, erhielt die Reisefreiheit ein vorläufiges Ablaufdatum. In Tschechien war es der 14. März um 0.00 Uhr, Berufspendler sollten zwölf Tage später keine Grenzen mehr passieren, wie es zwischenzeitlich hieß.

Für Martin Cerny wird es um kurz vor 16 Uhr Zeit, nach Hause zu fahren. 40 Kilometer weit, über die Grenze nach Chomotov. Viele Kollegen und Patienten aus Annaberg-Buchholz sagen ihm, dass sie den Ort aus DDR-Zeiten kennen, nur unter dem deutschen Namen Komotau. Auch zuletzt war es für Deutsche noch selbstverständlich, den Grenzübergang am Erzgebirgskamm zu überqueren. Wie bei den Kliniken: entweder um schöne Schnörkeligkeit zu sehen, in Komotau, Prag oder anderen Städten; oder um pragmatische Touren zu machen, zum Zigarettenkauf oder zum „Nachtclub“-Besuch im grenznahen Sebastiansberg.

Jetzt ist die Selbstverständlichkeit weg. Selten war es so kahl am Grenzübergang nahe Reitzenheim, zwischen den Kiefern und Fichten, auf dem Asphalt im Wald. „Ich komme besser nach Hause und auf Arbeit als sonst, weil die Straßen so leer sind“, sagt Martin Cerny. Wie die tschechische Polizei einem begegne, hänge sehr vom Naturell des Beamten ab. „Die meisten gucken sich Formulare und den Ausweis an und dann ist alles okay. Manche fragen Dinge, die sie echt nicht wissen müssen.“

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Als die tschechische Regierung das Pendeln verhindern wollte, stand er vor einer schnell gefällten Entscheidung: Worauf verzichten, Familie oder Arbeit? „Ich habe mir gedacht: Dann bleibe ich zu Hause. Wenn ich drei Wochen lang nicht dorthin darf und nicht weiß, was mit meiner Familie ist, ist das nicht gut“, sagt er. „Das wäre auch gegen Grundgesetze gewesen. Man darf niemanden hemmen, in die Heimat zu kommen.“ Mit seinem Chef hat Martin Cerny abgesprochen, dass er nach der Sperre zunächst zwei Wochen Urlaub nimmt.

Für den medizinischen Leiter Jürgen Prager hätte die Komplett-Sperre eine schwer überbrückbare Lücke bedeutet. Rund 30 Ärztinnen und Ärzte der Klinik kommen aus Tschechien und Polen. Kräfte hätten sachsenweit in der ohnehin knappen Krankenhaus-Besetzung gefehlt. Von den zuletzt knapp 3.000 ausländischen Ärzten sind an die 700 aus Tschechien und Polen, viele davon pendeln. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sah wohl eine Katastrophe auf Sachsens Krankenhäuser zukommen, versprach Pendlern 40 Euro Übernachtungsgeld pro Tag für sich und 20 weitere für Familienmitglieder, wenn sie die Zeit der Grenzschließung in Deutschland verbringen.

Die dramatischen Folgen einer gänzlichen Grenzschließung sah Tschechiens Regierung offenbar doch auch kommen, zumindest im letzten Moment. „Am Abend vor dem Tag, an dem es losgehen sollte, haben die das zum Glück geändert“, sagt Martin Cerny. Wer in medizinischen oder sozialen Berufen arbeitet, darf weiterhin über die Grenze fahren.

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Ein gern gesehener Grenzgänger ist man als Arzt aus Deutschland trotzdem nicht. "Offiziellerweise muss ich zu Hause bleiben. Ich bin eigentlich in der Quarantäne, weil ich in Deutschland arbeite, Deutschland ist für Tschechien als Risikogebiet eingestuft." Offiziellerweise, sagt Cerny, darf er nicht einmal alleine mit dem Fahrrad in den Wald fahren. Er schmunzelt. Auch von seiner Familie soll der Vater sich nach Vorgabe der Regierung trennen. "Aber wie soll das gehen? Ich habe drei Kinder, die auf mich drauf hüpfen, wenn ich nach Hause komme." Einkäufe erledigt jetzt seine Frau, in der gemeinsamen Freizeit arrangiert man sich. 

Warum Cerny überhaupt in Deutschland arbeitet, wenn er doch in Tschechien leben will? „Ich mache hier Innere Medizin, kann Katheter-Untersuchungen durchführen. Ich habe viele Möglichkeiten, die es in Chomotov nicht gibt“, sagt er. "Das Krankenhaus ist besser ausgestattet. Auch das Entgelt ist mehr, aber das war nicht das Entscheidende.“ Cernys Frau arbeitet als Rechtsanwältin, Deutschland würde ihren Abschluss so nicht akzeptieren. Einer der beiden müsste also in jedem der beiden Länder pendeln.

Im Herbst wird Cerny seine Prüfung zum Kardiologen ablegen, wenn durch das Lungenvirus Corona nicht doch alles anders wird. Auf Herzen hat er sich schon jetzt spezialisiert. Das Verständnis für den Motor des Menschen, Ultraschall und andere Untersuchungen füllen seinen normalen Alltag an der Klinik. Nicht Corona, sondern Koronar-Angiografie heißt eine dieser Methoden, mit denen er zuletzt eine Patientin untersucht hat.

„Bitte doch noch nicht ausmachen, ich mach’ das dann selbst“, sagt er der Mitarbeiterin, die er zuvor gebeten hatte, Geräte abzuschalten. Er wolle noch ein paar Befunde auswerten, bevor er Feierabend macht. Von einer Patientin, "die wir gerettet haben", sagt er. Etwas mehr Zeit hat er gerade wieder. Durch Corona wurden viele Untersuchungen verschoben, um Kapazitäten freizuhalten. "Nur die echt Kranken kommen noch."

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Die Arbeitsauslastung hat durch den Kampf gegen Corona etwas abgenommen. Normale Tage gehen von 7.30 Uhr bis 16 Uhr, wenn er Dienst hat, bleibt Cerny zwischen 18 und 24 Stunden im Klinikum. Mundschutz tragen jetzt alle, meistens auch die Patienten. „Es ändert sich noch nicht viel, man hat das Gefühl, dass es die Ruhe vor dem Gewitter ist.“ Eine Pflichtweiterbildung gab es für Martin Cerny nicht, aber die Möglichkeit, sich etwa durch Videokonferenzen zu bilden. "Es könnte vielleicht schon heftig losgehen", sagt er. "Hoffentlich wird die Welle nicht so groß."

Sein Beruf hat in Martin Cernys Familie Tradition, dass er Arzt werden will, war für ihn lange klar. "Wenn man das so sieht bei den Eltern, wie es läuft und was das alles bringen kann, wie schön es ist, wenn man anderen manchmal helfen kann, das hat mir immer gut gefalllen. Das ist es, was einen so nach vorne treibt." Man versuche es zumindest. Manche Leute, meint Cerny, hätten die Vorstellung, dass Medizin heutzutage alles kann, dass jeder Mensch 100 Jahre alt werden könne. "So ist es aber nicht. Manchmal macht es fast genauso viel wie ein gutes Medikament aus, die Hand zu halten und zu reden." Das erlaube die Zeit im hektischen Klinik-Alltag sonst oft nicht. Gerade gibt es ein bisschen mehr von ihr, zumindest in Abteilungen, die sich erst darauf vorbereiten, Patienten mit Corona aufzunehmen.

Sorgen bereiten Cerny nicht nur die Krankheit selbst, sondern auch die Folgerungen, die seine Regierung daraus ziehen könnte. Seit sie den Notstand ausgerufen hat, "haben wir in Tschechien jetzt ein bisschen Gänsehaut davor". Cerny sorgt sich, dass Tschechien dem Vorbild  Ungarns folgen könnte, dass Präsident Andrej Babis den historischen Moment missbrauchen könnte, um seine Macht weiter auszubauen.

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"Babis ist Populist und denkt sich jetzt eine Autokratie aus. Wenn Sie sehen, wie die Handlungen mit China sind, ist das manchmal echt unangenehm." Im tschechischen Fernsehen habe er beobachtet, sagt Martin Cerny, wie man von China mehrere Flugzeuge mit Hilfsmaterialien "mit großem Pomp und Danksagungen empfangen" habe. Trotz Möglichkeit, die Ware aus dem eigenen Land zu ordern, zumindest weitgehend. Auf den Kisten habe auf Tschechisch gestanden, dass die Pandemie gehen, die chinesisch-tschechische Freundschaft dagegen ewig währen würde.

"Unser Präsident hat sich vor die Kamera gesetzt und hat gesagt: Kein anderes Land hat uns so geholfen wie China. Die nutzen die Pandemie für Propaganda. Diese Zeiten lassen sich gerade offenbar nicht nur nutzen, um Menschen zu helfen, sondern auch, um politische Einflüsse zu unterstützen."

Immer wieder hätten Martin Cerny und seine Frau einander gesagt: "Wenn wir aus der EU aussteigen, müssen wir schnell nach Deutschland ausziehen, sonst wohnen wir in einer Autokratie." Bislang ist das noch keine reale Option geworden. "Noch will ich nicht nach Deutschland ziehen." Den nationalen Notstand hat Tschechien vorerst bis 30. April verlängert. Am 8. April hatten sich in Tschechien gut 5.000 Menschen mit Covid-19 infiziert, 88 waren in dem Land an der Grenze zu Sachsen und Bayern an dem Virus gestorben. 

Noch ein paar Befunde, dann kann Martin Cerny wirklich Feierabend machen. Dann lässt er den weißen Kittel hinter sich, in dem Klinikum, das die schnörkelige Schönheit hinter sich gelassen hat. Als das Erzgebirgsklinikum mit damals noch anderem Namen 1502 gegründet wurde, saß es in eben einem jener altehrwürdigen Gebäude. Als die Klinik dann in den 2000er-Jahren nach und nach in ihr neues Gebäude wich, zog unter anderem eine Schule ein. 

Jetzt, durch Corona, steht das alte Haus C der Erzgebirgsklinik wieder leer. Die Kinder sind zu Hause, so wie Martin Cerny nach rund 40 Kilometern. In seinem Garten, bei seinen Kindern. Ganz lässt er den Arzt aber auch in seiner Heimat Tschechien nicht hinter sich. Im Garten trägt er ein rotes T-Shirt mit Herz-Aufdruck