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Auf Westreise

Die BSG Sachsenring Zwickau erlebt Sternstunden im Europapokal – und Ludwig Blank ist der „Schotten-Tod“.

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© Thomas Kretschel

Von Sven Geisler

Er bekommt den Ball in der eigenen Hälfte, wird sofort attackiert. Aber der schottische Verteidiger macht einen Fehler. „Er hatte die Beine so weit offen, da musste der Ball einfach durch. Das geht gar nicht anders“, erzählt Ludwig Blank. Das ist jetzt gut 42 Jahre her, trotzdem träumt der einstige Außenstürmer der BSG Sachsenring Zwickau noch manchmal von dieser Szene. „Ich bin losgerannt, wollte möglichst weit weg von unserem Tor, Zeit gewinnen. Weil mich zwei verfolgten, dachte ich: Bevor die dich einholen, hältst du einfach mal drauf.“

Schlammiger Platz, harte Kämpfer: Zwickaus Ludwig Blank (r.) grätscht Paul Wilson von Celtic Glasgow weg – vor allem erzielt er aber beide Tore gegen die Schotten. Die BSG zieht ins Halbfinale des Europacups ein.
Schlammiger Platz, harte Kämpfer: Zwickaus Ludwig Blank (r.) grätscht Paul Wilson von Celtic Glasgow weg – vor allem erzielt er aber beide Tore gegen die Schotten. Die BSG zieht ins Halbfinale des Europacups ein. © Frank Kruczynski

Volltreffer. Der Ausgleich in der 88. Minute. Dieses 1:1 bei Celtic Glasgow am 3. März 1976 ist schon eine faustdicke Europapokal-Überraschung, die Krönung aber, dass es Blank im Rückspiel noch mal so macht. Die Halde, wie das Zwickauer Georgi-Dimitroff-Stadion von den Fans genannt wird, bebt. Mehr als 40 000 Zuschauer stehen bis hoch in den Wald, viele klettern auf Bäume. Die Schüler dürfen zeitiger nach Hause, im Sachsenring-Werk fällt die Schicht aus. „Wir waren vorher im Ringcafé essen, ohne Polizeieskorte hätten wir wohl den Anstoß verpasst“, erinnert sich Blank an den Massenauflauf.

Dabei ist es „ein Mistwetter“, wie der 69-Jährige erzählt. „Der Platz war schon nach vier Minuten ein Acker, der Ball ist alle zwei Meter auf einem Schlammhuckel liegengeblieben.“ Diesmal ist es die fünfte Minute, als er den Ball bekommt, der Gegenspieler ihm „mit breiten Beinen“ entgegenstürzt und er wieder einfach mal draufhält. Das 1:0 verteidigen die Zwickauer danach leidenschaftlich und dank ihres herausragenden Torwarts.

Jürgen Croy ist der Superstar und soll eigentlich zu Dynamo Dresden oder Lok Leipzig „delegiert“ werden. Er verweigert jedoch den Wechsel und sieht die Drohung der Funktionäre gelassen, er werde zum anderthalbjährigen Wehrdienst eingezogen. „Natürlich war ich geschockt“, erzählte er im Gespräch mit der SZ. Er wusste allerdings, welche Wellen diese Strafmaßnahme auslösen würde, die Arbeiter in der Trabant-Produktion wären zum Streik bereit gewesen. „Es ist nichts passiert.“

Also stand Croy im FDGB-Pokalfinale 1975 bei Sachsenring zwischen den Pfosten – und nicht bei Dynamo. Als die Schwarz-Gelben in der Verlängerung das 2:1 erzielen, fordert DDR-Reporter-Legende Heinz-Florian Oertel die Dresdner in seinem Fernsehkommentar auf, schon mal die Sektkorken knallen zu lassen. Blank gibt zu: „Ich habe in der 118. Minute an die Stadionuhr geguckt und gedacht: Okay, wir haben es versucht.“ Doch dann passiert das Unglaubliche, Zwickau schafft das 2:2. „Peter Nestler hatte bis dahin gegen Gerd Weber kein Bein auf den Boden gekriegt. Doch dieses eine Mal vernascht er ihn und haut das Ding fast von der Grundlinie rein.“

Elfmeterschießen. Croy hält gegen Weber, Zwickau ist im Vorteil, als Blank antritt. Er scheitert an Dynamo-Torhüter Claus Boden. „Der Kopf ist leer, wenn du danach zurück zur Mittellinie gehst“, meint der Fehlschütze, allerdings muss er sich keine Sorgen machen: „Mit dem Langen im Tor war es klar, dass wir gewinnen.“ Croy pariert den Versuch von Hans-Jürgen „Dixie“ Dörner und verwandelt als letzter Schütze selbst. Die Pokalsensation ist perfekt und Harry Tisch, der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes FDGB, darüber besonders froh. „Er war Fischkopp und die Rivalität zwischen Rostock und Dresden groß. Es war ihm ein innerer Vorbeimarsch, uns den Pokal zu übergeben.“

Vorm Radio auf das Los gewartet

Zwickau im Europapokal. Das sollte eigentlich nicht sein, die Funktionäre hatten Angst, die BSG-Kicker könnten sich blamieren. „Uns kam mit Sicherheit zugute, dass die anderen erst mal auf der Landkarte geguckt haben: Wo liegt eigentlich dieses Zwickau?“, sagt Blank. Bei jeder Auslosung saß die Mannschaft in der Kneipe am Stadion vor dem Radio zusammen und hat gehofft, das Los möge ihnen eine Westreise bescheren. „Das war für jeden Fußballer in der DDR ein Traum. Wir hatten Glück …“

Erste Runde: Panathinaikos Athen – 0:0 und 2:0. Zweite Runde: AC Florenz, auswärts 0:1, zu Hause erzielt Joachim Schykowski das 1:0. Entscheidung vom Punkt. Giancarlo Antognoni, „ein Gala-Fußballer“, trifft den Pfosten, Croy verwandelt. Viertelfinale: Glasgow. Stadtrundfahrt inklusive. Für jeden Reisetag bekommen die Spieler 25 D-Mark. „Das meiste haben wir mit nach Hause genommen“, erzählt Blank. Für harte Währung kam mancher Handwerker außer der Reihe. Seiner Frau Bärbel, mit der er seit der Wende durch die Welt reist und besonders gern in Sri Lanka ist, bringt er eine Strickjacke mit. „Ich habe mir eine Verkäuferin gesucht, die eine ähnliche Figur hatte, damit sie sie anprobiert.“

Sie passt. Die Stimmung im alten Celtic Park ist überwältigend. „Wir kommen raus, und es gibt Beifall“, sagt Blank. „Fünf Minuten später kommen die Schotten, und ich dachte, die Bude fällt auseinander. War das ein Getöse! So ging es das ganze Spiel. Wahnsinn!“ Trotzdem bleiben die Zwickauer cool, selbst, als es Elfmeter gegen sie gibt. „Wir hatten ja noch jemanden im Tor stehen … Wenn Jürgen Lust hatte, sind wir sogar im Training an ihm verzweifelt.“

Natürlich hat Croy große Lust an jenem denkwürdigen Tag. Bobby Lennox schießt. „Das war wirklich ein Kanonenschlag: links oben aufs Eck.“ Aber nicht rein. „Den hat der Jürgen rausgeboxt, der Ball kam erst an der Mittellinie wieder runter.“ Und so konnte sich Blank seinen Beinamen verdienen: „Schotten-Tod.“ Zwei Treffer für die Ewigkeit. Für die furiosen Außenseiter endet der Rausch erst im Halbfinale, der RSC Anderlecht ist eine Nummer zu groß (0:3, 0:2), die Belgier gewinnen auch das Endspiel gegen West Ham United.

An diese Sternstunden denken sie in Zwickau gern, der FSV spielt jetzt in der 3. Liga. Immerhin. Es stand schon mal viel schlechter um den Klub. „Diese Erfolge sind ein Teil unserer Geschichte, ein sehr wesentlicher sogar“, sagt Tobias Leege, und er fügt hinzu: „Tradition ist etwas, das man in seinem Stammbuch bewahren und pflegen muss, aber für die Gegenwart kann man daraus keine Vorteile ziehen.“

Wirtschaftlich solide

Der Rechtsanwalt ist 41, also erst nach dieser legendären Europacup-Zeit geboren. Als er 2010 zum FSV kam, hatte er mit Fußball nichts zu tun, sondern führte im Auftrag des Insolvenzverwalters Gespräche mit den Gläubigern. Er ist geblieben, jetzt Vorstandssprecher und stolz darauf, dass der Verein wirtschaftlich solide dasteht und sich ein Nachwuchsleistungszentrum leisten kann, um Talente für eine sportlich erfolgreiche Zukunft zu entwickeln.

Wie früher, als nur Spieler aus der Region in der Mannschaft standen, wird es wohl nie mehr sein. „Wir kamen alle aus dem engeren Umfeld, die Zuschauer konnten sich mit uns identifizieren“, sagt Blank – und fügt grinsend hinzu: „Wer es nicht nach Zwickau geschafft hat, ist nach Aue gegangen.“

Am Freitag lesen Sie: Warum sich der Stürmer von der BSG Lok Stendal 20-mal die Knochen brach.