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Wenn der Dirigent zum Diktator wird 

Wieder soll ein Maestro selbstherrlich gehandelt und Musiker schikaniert haben. Dabei ist die Zeit der autoritären Orchester-Chefs eigentlich längst vorbei.

Von Bernd Klempnow
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Daniel Barenboim, seit 26 Jahren Chef der Berliner Lindenoper, soll Musiker und andere Künstler gemobbt haben.
Daniel Barenboim, seit 26 Jahren Chef der Berliner Lindenoper, soll Musiker und andere Künstler gemobbt haben. © PR

Wieder einmal steht ein großer Dirigent am Pranger. Wohl geht es diesmal nicht um sexuelle Übergriffe wie im Falle von James Levine, Gustav Kuhn oder Daniel Gatti. Mitarbeiter und ehemalige Mitglieder der Berliner Staatskapelle werfen anonym und mittlerweile namentlich dem Musikchef der Berliner Staatsoper, Daniel Barenboim, vor, „launisch, aggressiv und demütigend“ Musiker misshandelt zu haben.

Dabei schienen die Zeiten der Orchester-Diktatoren lange vorbei. Ob Kurt Masur oder Sir Colin Davis: Viele Maestro, zumindest in jungen Jahren, zeigten ein autoritäres Verhalten. Sprunghaftigkeit, Unberechenbarkeit und Machtfülle gehörten quasi zum Anforderungsprofil eines Kapellmeisters der alten Schule. Doch das änderte sich mit dem wachsenden Selbstbewusstsein der Studenten und Musiker in den 1960er- und 1970er-Jahren. „Vor allem die Selbstinszenierung von Herbert von Karajan führte jedem vor Augen, wie affig so ein Verhalten war“, sagt der Dresdner Dirigierprofessor und Leiter mehrerer Laien- wie Profi-Ensembles Ekkehard Klemm.

Herbert von Karajan galt als besonders strenger Lehrer. 
Herbert von Karajan galt als besonders strenger Lehrer.  © dpa/Siegfried Lauterwasser

Im Falle Barenboim sprach zunächst der ehemalige Solopauker Willi Hilgers, von 1998 bis 2013 in der Staatskapelle und jetzt an der Bayerischen Staatsoper, von Schikanen des Dirigenten. Der hatte ihm fehlendes Rhythmusgefühl attestiert. Hilgers habe durch die Demütigungen Bluthochdruck bekommen und unter einer schweren Depression gelitten.

Barenboim wies die Vorwürfe zurück. Er habe halt südamerikanisches Temperament, diene nur der Musik. Wenn er mal eine Grenze überschritten hätte, dann könne man doch reden, er sei dazu immer bereit.

Schon wird über seine Nachfolge diskutiert. Er selbst hat dem Vorschub geleistet, indem er die Diskussion über seinen Führungsstil gleich als Intrige gegen seine Vertragsverlängerung interpretierte. Seit 1992 hat der heute 76-Jährige den Posten inne. Bis 2022 läuft sein Vertrag. Gesundheitlich ist er schon geraume Zeit angeschlagen.

Nun legt ein weiterer Musiker nach. Der heutige Dirigent Leo Siberski, erster Trompeter in der Berliner Kapelle von 1992 bis 2004 und inzwischen Generalmusikdirektor am Theater Plauen-Zwickau, beschrieb am Donnerstag in der Tageszeitung Die Welt massive Demütigungen in den Proben. Er habe Atemnot bekommen und sei schließlich zusammengebrochen.

Als er zusätzlich Dirigieren studieren wollte, sei er zum „Störfaktor im System“ geworden. Da habe Barenboim ein Exempel statuiert. „Die Musiker unter ihm müssen funktionieren, eigene Gedanken und Schwächen interessieren ihn nicht. An der Berliner Staatsoper sind der Fürst und das Fürstentum eins. Als selbstlosen Diener seines Hauses habe ich Barenboim nie wahrgenommen. Fürsorgepflicht für seine Angestellten ist für ihn ein Fremdwort. Wie viele Hochbegabte ist er mit einer erstaunlichen Rechthaberei-Mentalität gesegnet.“

Einst ein Polterer und Machtmensch

Die Vorwürfe verwundern nicht. Denn, dass der Beschuldigte nur mit einem Teil seiner Kapelle arbeitet, war intern bekannt. Auch, dass er ein Machtmensch ist. Kein Wunder: Barenboim ist ein Musikgigant, ein unglaubliches Talent. Ob er Klavier spielt, Kammermusik gestaltet, ein Orchester leitet, ein Opernhaus führt, Bücher und Essays schreibt, über Politik im Nahen Osten redet, einen jüdisch-islamischen Klangkörper samt Akademie gründet oder einen Kammermusiksaal in Berlin initiiert – die Karriere ist einzigartig. Die Erfolge sind nicht hoch genug anzuerkennen. Er hatte 1992 ein verunsichertes Haus und ein vernachlässigtes Orchester übernommen und beide innerhalb von zehn Jahren an die Spitze Deutschlands gebracht. Und die Musiker, die tarifmäßig unter ihm auch in die Spitzenliga kamen, hielten lange still.

Doch jetzt, in Zeiten einer MeToo-Debatte, ist Machtmissbrauch ein offenes Thema geworden. „Barenboim hat den Fluch aller Immensbegabten, dass sie ihr Leben lang mit weniger Begabten zu tun haben. Da kann man schon mal ungeduldig werden“, sagt Klemm. „Das entschuldigt aber keine Entgleisungen.“

Auch Kurt Masur bekannte im hohen Alter, einst ein Polterer und Machtmensch gewesen zu sein. Doch der Demokratisierungsprozess auch in den Orchestern habe viel bessere Ergebnisse ermöglicht. „Arbeite ich mit den Musikern wie mit Freunden, dann geben sie mir viel mehr zurück, als wenn ich Druck ausübe.“ Die letzten Konzerte des ehemaligen Chefs des Leipziger Gewandhauses und der Dresdner Philharmonie, als dieser wegen seiner Parkinson-Erkrankung mehr mit Andeutungen als erkennbaren Gesten dirigierte, waren mit die spannendsten und beeindruckendsten.

Die Pädagogen der Dresdner Musikhochschule „Carl Maria von Weber“ versuchen deshalb, ihre Dirigierstudenten zu „wissenden und charismatischen Interpreten sowie anständigen Menschen“ zu formen. „Wir vermitteln möglichst viele Zugriffsmöglichkeiten zu dem Beruf, sodass sich die Studenten dem von vielen Seiten nähern können. Das beinhaltet ebenso eine große Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Dingen.“ Die Achtung der Orchestermusiker erwerbe man nur durch Können, Wissen und wenn man eine Vision von den Werken habe.

Klemm nimmt es gelassen: „Schon aus meiner Zeit als Kruzianer weiß ich, dass die Musik nicht alles ist, sondern auch andere Qualitäten des Nebenmir wichtig sind.“ Er kennt es zur Genüge, anderen etwas immer wieder beizubringen. Er arbeitet viel mit Laien wie in seiner Singakademie. „Ich gebe zu, es kostet manchmal Nerven, einen Rhythmus oder eine Passage zum x-ten-Mal erklären zu müssen.“

Christian Thielemann, Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle
Christian Thielemann, Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle © dpa/Hans Punz

Ähnlich sieht das der Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Christian Thielemann. Auch der hält nichts von Kämpfen zwischen Dirigent und Orchester. „Ein Klima der Angst blockiert nur. Wir wollen doch gemeinsam einen Weg finden, die Komposition erklingen zu lassen. Das bedeutet auch, jede einzelne Stimme, jeden einzelnen Musiker zu schätzen. Ja, im Zweifel muss man mit Nachdruck an Dingen arbeiten, aber respektvoll. In den Proben geht es darum, das Feuer, das in den Partituren steht, zu entzünden. Tatsächlich gibt es nur wenige Menschen, die das können. Die diese Prometheus-Qualität haben, weil sie selber brennen. Das ist eine naturgegebene Begabung. Aber ein Dirigent ist trotzdem kein Sonnengott.“

Vielleicht verändert einen die Musik? „Darin liegt ihr großer Reiz. Und genau darin liegt auch ihre Gefahr. Musik schafft es, selbst das Böse schön erscheinen zu lassen“, sagte Thielemann einmal. „Ich habe lange gebraucht, um zu lernen, diese Gefühle zu kontrollieren. Es ist ein langer Weg, bis man feststellt, dass die Musik so groß ist, dass sie einen auch kaputtmachen kann. Dass man sich in ihr verlieren kann. Dass sie zerstörerisch wirkt.“

Vielleicht sind die Musiker auch zu sensibel oder gerade vor großen Auftritten zu dünnhäutig? Künstler auf dem Niveau der Berliner Kapelle stehen ihr ganzes Leben unter einer extremen Belastung. Zudem spielt die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes eine große Rolle, wenn sie sich mal verspielen sollten. Die Fehlertoleranz liegt quasi bei null. Der Leistungsdruck ist enorm. Entsprechend groß ist der Betablocker-Missbrauch in solchen Orchestern.

Nach der massiven Kritik an Barenboim soll es jetzt in der Berliner Staatsoper Gespräche und Versammlungen geben. Der junge Intendant Matthias Schulz will „allen Hinweisen, die da kommen sollten, konsequent nachgehen und dann das Gespräch mit allen Beteiligten suchen“.

„Zurück bleibt ein Scherbenhaufen“

Erstaunlich: Der Orchestervorstand hat sich geschlossen hinter Barenboim gestellt. Mit ihrem Generalmusikdirektor feiere die Staatskapelle „durch gegenseitiges Vertrauen und in enger Zusammenarbeit“ regelmäßig große künstlerische Erfolge, hieß es in einer Stellungnahme. „Dieses Vertrauen bleibt gerade auch jetzt unangetastet. Die Staatskapelle freut sich deswegen auf weitere Jahre erfolgreicher Zusammenarbeit.“

Laut Demütigungsopfer Siberski ist der Orchestervorstand bei den Schikanen nie offensiv eingeschritten. Das wundert auch die Deutsche Orchestervereinigung. „Wenn es zu solchen Problemen kommt, ist eigentlich der gewählte Orchestervorstand das Organ, das zwischen einem Chefdirigenten und den betroffenen Musikern vermitteln sollte“, sagt Geschäftsführer Gerald Mertens. Es gebe immer Fälle, bei denen Chefs mit einzelnen Musikern nicht könnten. „Dann gibt es künstlerisch begründete Probleme, was offenbar gelegentlich nicht vom Zwischenmenschlichen zu trennen ist.“ Ob das jeweils angemessen sei? „Ein Chefdirigent ist nun mal derjenige, der künstlerisch bestimmen muss, wie so ein Konzert klingen soll.“ Die Frage sei, „wie geht man damit sachgerecht um“.

In Berlin haben viele zu lange weggeschaut: die meisten Musiker, drei Intendanten unter Barenboim, die Branche, die ihn hofiert hat. Der gemobbte Leo Siberski nennt noch mehr Schuldige: „Die Netzwerke der internationalen Agenturen haben diese Missstände genauso hingenommen, wenn nicht gar befördert, wie es letztendlich auch die Politik tat.“ Weitsicht stecke nicht dahinter, denn irgendwann werde es eine Post-Barenboim-Ära geben müssen. „Zurück bleibt ein Scherbenhaufen.“

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