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Lasst uns wieder streiten, aber richtig!

Die Angst vor Corona hemmt bei Konflikten. Doch für die Demokratie ist das auf Dauer nicht gesund. Ein Kommentar.

Von Marcus Thielking
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© dpa / SZ

Was ist eigentlich aus dem Riss geworden, der durchs Land geht? Ostdeutsche und Westdeutsche, Flüchtlingshelfer und Flüchtlingshasser, Dieselfahrer und Elektro-Mobilisierte - seit Wochen sind wir ein einig Volk von Hobbyvirologen und Stubenhockern. Wie weggefegt scheinen die Streitthemen der letzten Jahre. Mehr als 90 Prozent der Deutschen befürworten die Kontaktverbote. Die Oppositionsparteien halten sich mit Kritik zurück. Sogar die AfD, sonst aus Prinzip immer dagegen, muckt nur hier und da auf, angesichts solcher Umfragen. So viel Einigkeit war nie. Aber es ist ein Scheinfrieden.

Jede Wette: Der Streit wird noch kommen, sobald sich die Schockstarre legt. Es geht jetzt schon los. Die Kurve der Infektionen wird flacher, Baumärkte dürfen wieder öffnen, Kirchen nur bedingt - solche und andere Verzerrungen sorgen für Konflikt. In einigen Wochen wird auch die Debatte erst so richtig in Fahrt kommen, die bislang von einigen Akademikern und Intellektuellen angestoßen wird: ob nämlich die drastischen Eingriffe in Grundrechte und Wirtschaft überhaupt angemessen und richtig waren.

Die Aufgabe der Opposition

Da wird mancher fragen: Muss so eine Debatte denn sein? Kann man nicht wenigstens in dieser Notsituation mal die Regierung in Ruhe lassen? Brauchen wir eine demokratietheoretische Grundsatzdiskussion, wo es doch um den Schutz von Leib und Leben geht? Hat das Land jetzt nicht andere Sorgen? Auf diese Fragen gibt es nur eine Antwort: Ja, es muss sein!

Und zwar muss es auch dann sein, wenn man selbst prinzipiell der Ansicht ist, dass es richtig war, dem Rat von Virologen zu folgen und das Land dicht zu machen. Natürlich war da erst mal keine Zeit für ausgiebige Diskussionen, es musste alles sehr schnell gehen. Aber es wäre nicht gut für die Demokratie, wenn es bei einem Schulterzucken bliebe.

Allein schon, um die Kritik nicht Populisten und Verschwörungstheoretikern zu überlassen, ist es wichtig, dass diese Debatte nachgeholt wird. Es wird dann vor allem die Aufgabe der Oppositionsparteien, aber auch von Medien und Zivilgesellschaft sein, den Regierenden kritische Fragen zu stellen. Die Eingriffe in unsere Grundrechte sind von historisch beispiellosem Ausmaß. Über jede einzelne Maßnahme hätte es unter normalen Umständen jahrelange heftige Kontroversen gegeben. Es würde diese Grundrechte dauerhaft beschädigen, wenn eine demokratische Aufarbeitung ausbliebe.

Wissenschaft und Politik

Und wenn wir am Ende zu der Erkenntnis kommen: Ja, die Maßnahmen waren im Großen und Ganzen gerechtfertigt - umso besser. Dann wäre es eine Einsicht, die auf einem Austausch von Argumenten basiert, und nicht auf der Verunsicherung vieler Menschen und den Ratschlägen einiger Virologen.

Wir können dankbar sein, dass wir in Deutschland solche Spitzenforscher haben. Aber mal abgesehen davon, dass sie sich keineswegs immer einig sind: Wenn alles nach dem Rat der Wissenschaft ginge, wozu bräuchten wir dann überhaupt Regierungen, Parlamente, Gerichte und Wahlen? Länder wie Schweden oder Südkorea haben in der Pandemie einen anderen Weg gewählt. Es ist eine politische Entscheidung.

Auch in der Klimadebatte rät ein Großteil der Wissenschaftler, die Politik müsse viel stärker eingreifen. Doch Demokratie ist komplizierter: Es gibt Atomkraftgegner, Dieselfahrer, Vielflieger, Vegetarier, Kohleregionen, Fridays for Future und den ADAC. Um all diese Interessen zu berücksichtigen, haben wir Parteien, Verbände, Koalitionen und Kompromisse. Warum sollte das bei Corona anders sein?

Respekt vor den Verantwortlichen

Manche Politiker, die in letzter Zeit mit leicht volkserzieherischem Unterton aufgetreten sind, möchte man gerne daran erinnern: In einer Demokratie kontrolliert nicht die Regierung das Volk - sondern umgekehrt. Die Debatte muss also kommen, und sie wird auch kommen, spätestens wenn die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Verbote immer schmerzhafter werden.

Deshalb wäre es schön, wenn wir uns schon mal auf ein paar Grundregeln verständigen könnten, wie wir diese Debatte so führen, dass sie unserer Demokratie zur Ehre gereicht: also zum Beispiel ohne jede Besserwisserei und Häme, mit Respekt vor den Verantwortlichen, die unter Zeitdruck schwierige Entscheidungen fällen mussten.

Vor allem aber mögen sich bitte alle vor dem Grundübel hüten, das zuletzt so viele Debatten verdorben hat: dem Moralisieren. Wer über Grundrechte diskutieren will, dem sind Menschenleben und Patienten natürlich nicht egal. Andererseits ist Deutschland selbstverständlich keine Diktatur, wenn auf Zeit einige Grundrechte eingeschränkt werden. Nein, wer auf diesem Niveau diskutieren will, dem kann man nach Corona nur eines zurufen: Bleib zu Hause!