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Der General ergibt sich

Im Wendeherbst 1989 steigt der Druck auf den „Lugstein“. Das Stasiheim in Zinnwald soll jetzt für alle da sein, fordern die Bürger.

Von Jörg Stock
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Auf verlorenem Posten:
Generalmajor Horst Böhm führte die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden. Er war somit auch Hausherr im Ferienheim des MfS „Am Lugstein“, wo er stets im Panoramazimmer Nummer 319 wohnte. Im November 1989 musste Böhm der Öff
Auf verlorenem Posten: Generalmajor Horst Böhm führte die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden. Er war somit auch Hausherr im Ferienheim des MfS „Am Lugstein“, wo er stets im Panoramazimmer Nummer 319 wohnte. Im November 1989 musste Böhm der Öff © BStU

Keine Mauer, kein Stacheldraht umringt den „Lugstein“ in Zinnwald. Und doch gilt er als unantastbar. An seiner Tür klingelt nur, wer vom Hausherrn, dem Ministerium für Staatssicherheit, gerufen wird. Bis zu einem Samstagmorgen im Herbst 1989. Da wollen zwei Männer aus Altenberg wissen, was vor sich geht im Feriendomizil der Geheimpolizei. Vor allem wollen sie eins: in der Abhörzentrale den Stecker ziehen.

Feiern gegen den Untergang: Diese Menükarte galt zu Ehren des 40. Jahrestags der DDR am 7. Oktober 1989 im „Lugstein“. 
Feiern gegen den Untergang: Diese Menükarte galt zu Ehren des 40. Jahrestags der DDR am 7. Oktober 1989 im „Lugstein“.  © Norbert Millauer

Diese Männer heißen Matthias Quentin und Andreas Büttner, ein Pfarrer und ein Schlosser. Sie hatten in Altenberg eine Zelle des Neuen Forums gebildet, jener Bürgerbewegung, die das verkrustete System DDR reformieren wollte. „Die Leute standen bei mir Schlange, um für das Forum zu unterschreiben“, erinnert sich Büttner. Beflügelt von der Aufbruchsstimmung und mit „Polizeischutz“ des Altenberger ABV entschloss man sich, im Zinnwalder Stasiheim Einlass zu fordern.

„Es gab die wildesten Gerüchte über den Lugstein“, sagt Büttner, vor allem über den vermeintlichen Luxus im Haus. Fakt war wohl: Bei Pfarrer Quentins Telefon hörte die Stasi mit. Das hatte ein Freund der Forum-Gründer herausgefunden, der bei der Post beschäftigt war. Die Schaltung laufe über den „Lugstein“. Das wollte man sich nicht länger gefallen lassen, sagt Andreas Büttner. „Da haben wir entschieden: Wir gucken uns das jetzt an.“

Volkes Arbeit in Volkes Hand? Das Schwimmbad des MfS-Heims, hier ein Privatfoto vom Ende der 1980er, soll nun offen für alle sein. 
Volkes Arbeit in Volkes Hand? Das Schwimmbad des MfS-Heims, hier ein Privatfoto vom Ende der 1980er, soll nun offen für alle sein.  © Rainer Förster

Es kocht und brodelt überall in der DDR in diesen Herbsttagen, auch in Dresden. Anfang Oktober kommt es am Hauptbahnhof bei der Durchreise von Botschaftsflüchtlingen aus Prag zu schweren Tumulten. 20.000 Menschen demonstrieren anschließend auf der Prager Straße, fordern Freiheit, Gewaltlosigkeit, die Anerkennung des Neuen Forums. Und das Wunder passiert: Die Polizisten legen ihre Schilde nieder. Die Staatsmacht lenkt ein und beginnt den Dialog mit der „Gruppe der 20“.

Dass die Macht der SED bröckelt, zeigte sich auch in Zinnwald. Immer mehr Leute drängten aus dem Land, vor allem, als Ungarn seinen Grenzzaun demontierte. „Alles dünnte sich aus“, erzählt Rainer Förster, damals Oberleutnant und Leiter des „Lugstein“. So waren auf einmal Combos für Tanzabende knapp, weil die Musiker fehlten. Am nahen Grenzübergang zur ČSSR wurden ständig Menschen gestoppt, bei denen man Fluchtpläne witterte. Es waren so viele, dass die Passkontrolleure zum Rücktransport den Ausflugsbus des Ferienheims borgen mussten, erinnert sich Förster. „Die Spannung war überall deutlich zu spüren.“

Las die Stasi heimlich die Perestroika? Dieses Büchlein fand man später in einem verborgenen Fach des Heimleiterschreibtischs. 
Las die Stasi heimlich die Perestroika? Dieses Büchlein fand man später in einem verborgenen Fach des Heimleiterschreibtischs.  © Egbert Kamprath

Trotzdem gab es noch pompöse Festlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR. Auch den Urlaubern im „Lugstein“ wurde zu Ehren der Republik groß aufgetafelt: Geflügelgelatine mit Pfirsichsoße, Rehbraten in Rotweinsoße, Kaninchenrollbraten mit Kartoffelcrêpes, Erdbeeren mit Schlagsahne. Kellnerin Marion Kohlstedt hat das Festmahl damals mit serviert. Die Menükarte besitzt sie bis heute. Dass sich was ändern musste im Staat, war abzusehen, meint sie. Sie schüttelt den Kopf über die sturen Parteiführer von damals. „Dass die sich noch mal auf die Tribüne stellen und feiern…“

Als einzelne SED-Funktionäre schließlich mit dem Volk reden, ermutig das Oppositionelle wie Matthias Quentin und Andreas Büttner, und verwirrt die Stasi. Im „Lugstein“ wundert man sich über die zwei Fremden mit der Volkspolizei im Schlepp. Doch werden sie höflich empfangen. Eine Abhörzentrale kriegen sie aber nicht zu sehen. Sie werden herumgeführt, durch verschiedene Kellerräume, die leer sind, und durch die Urlauberzimmer. Andreas Büttner ist beinahe enttäuscht, wegen der simplen Ausstattung. Zufrieden sind die beiden trotzdem mit ihrem Kontrollgang. „Wir hatten denen gezeigt, dass wir wachsam sind, und dass sie nicht mehr alles mit uns machen können.“

Im Grenzgebiet gärt es weiter. Seit man nur noch mit Visum in die Tschechoslowakei darf, sind die Leute, die manche Bückware in Böhmen besorgten, vollends auf der Palme. Die Bergleute bei Zinnerz rebellieren mit 20 Prozent weniger Arbeitsleistung. Sie fordern unter anderem, Schluss zu machen mit den Privilegien der Stasi in Zinnwald. Bei einer Volksvertretersitzung am 26. Oktober erklärt ein Kumpel, Schwimmhalle, Sauna und Gasträume des „Lugstein“ müssten für alle geöffnet werden. „Hierzu gab es starken Beifall“, meldet Heimleiter Förster in seinem Bericht „zur Lage im Verantwortungsbereich“ an die Bezirksverwaltung des MfS in Dresden.

Die Stasizentrale unter Generalmajor Horst Böhm beginnt das Rückzugsgefecht. In einer streng vertraulichen Note an SED-Bezirkschef Hans Modrow – „Um Rückgabe wird gebeten!“ – listet Böhm am 31. Oktober die Verdienste des Ferienkomplexes „Am Lugstein“ für Zinnwald auf: Bauleistungen für die Kläranlage, Einsatz der Schneeräumtechnik in der Gemeinde und bei Zinnerz, Unterstützung des Ortsjubiläums mit Transportleistungen, Betreuung betriebsfremder Kinder im Kindergarten des „Lugstein“. Sogar die 3.400 Arbeitsstunden von Mitarbeitern des MfS-Heims beim Bau des neuen Kabelfernsehnetzes, also zum Empfang von Westfernsehen, werden „für die Argumentation mit der Bevölkerung“ ins Feld geführt.

Doch das geschlossene System „Lugstein“ wankt. Am 6. November gibt es eine Aussprache mit Zinnwalds Bürgermeister Herbert Kempe. Oberst Günter Wenzel, Leiter der Rückwärtigen Dienste des MfS in Dresden, schlägt vor, Schwimmbad und Sauna des Heims jeden Samstag drei Stunden für die Einwohner zu öffnen, wobei die Türen zu den Treppenaufgängen, also zum restlichen Objekt, verschlossen bleiben sollen. Am 9. November quittiert sein General diesen Deal: „So machen! Böhm.“ Am gleichen Tag kündigt der Handel für Obst, Gemüse und Speisekartoffeln OGS in Dippoldiswalde dem „Lugstein“ alle Lieferverträge. In der Nacht fällt die Mauer.

Touristen statt Geheimpolizisten: Der Gemeinderat sieht für das „Hotel Stasi“ eine rosige Zukunft, so meldet es die SZ am 28.12.1989. 
Touristen statt Geheimpolizisten: Der Gemeinderat sieht für das „Hotel Stasi“ eine rosige Zukunft, so meldet es die SZ am 28.12.1989.  © Archivverbund Pirna

Das Rad der Geschichte rollt weiter. Und überrollt die Staatssicherheit, jetzt umbenannt in Amt für Nationale Sicherheit, kurz Nasi. Auf der ersten Demo des Neuen Forums in Dipps am 25. November 1989 fordert die Kreisgeschäftsführerin der CDU, Andrea Hubrich, heute Dombois, den „Lugstein“ in ein Seniorenheim umzuwandeln. In den sogenannten Feierabendheimen der DDR hätten teils schreckliche Zustände geherrscht, erklärt die heutige sächsische Landtagsvizepräsidentin den damaligen Vorstoß. „An die Chancen des Tourismus hat da noch keiner gedacht.“

Am 5. Dezember wird die Nasi-Kreisdienststelle in Dipps versiegelt. Am gleichen Tag stürmen Tausende die Bezirksverwaltung von Horst Böhm in Dresden. Der General gibt seine Pistole ab. Die Zinnwalder Gemeinderäte schauen sich im „Lugstein“ um und träumen von einem großen Touristenhotel. Zu Weihnachten gibt es schon Essen und Tanz für jedermann. Als das neue Jahr beginnt, wird das Haus der DDR-Einheitsgewerkschaft FDGB vermacht. Damit ist die Herrschaft der Geheimpolizei über den „Lugstein“ endgültig vorbei.

Zum Schluss der „Akte Lugstein“ lesen Sie: Aufbruch in die neue Zeit – der „Lugsteinhof“ kommt zurück.