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Der Tag, an dem Benno starb

Vor 40 Jahren gab es eine Explosion im Ölwerk Riesa. Zehn Menschen starben. Eine persönliche Erinnerung.

Von Jürgen Müller
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Wie im Krieg: Bei einer Explosion in den Riesaer Ölwerken starben am 5. Februar 1979 zehn Menschen. 39 weitere wurden teils schwer verletzt. Ursache waren Schlamperei und nicht eingehaltene Arbeitsschutzbestimmungen.
Wie im Krieg: Bei einer Explosion in den Riesaer Ölwerken starben am 5. Februar 1979 zehn Menschen. 39 weitere wurden teils schwer verletzt. Ursache waren Schlamperei und nicht eingehaltene Arbeitsschutzbestimmungen. © Archiv-Feuerwehr/Siegfried Bossack

Riesa. Es war ein so schönes Wochenende, in den ersten Februartagen des Jahres 1979. Die dreiwöchigen Winterferien hatten auch für uns Elftklässler gerade begonnen. Am Freitagabend hatten wir Schüler der Erweiterten Oberschule „Max Planck“ im „Stern“ ausgelassen Fasching gefeiert. 

Ich hatte Fotos gemacht, auf denen sich einer mit lustigen Gesten hervortat. Es war Benno aus der Parallelklasse, ein freundlicher und stets lustiger Typ. Er war beliebt und die Familie in der Stadt auch deshalb sehr bekannt, weil sein Vater Fahrlehrer war. Niemand konnte ahnen, dass diese Fotos die letzten von Benno sein würden.

Am Sonntag ging es mit der Klasse in die Oper nach Leipzig. „La Boheme“ von Puccini wurde aufgeführt. Spät, weit nach Mitternacht, waren wir erst in Riesa zurück. Dennoch bin ich an jenem 5. Februar zeitig aufgestanden. 

Mein Vater hatte Geburtstag, ich wollte ihm gratulieren, bevor er ins Stahlwerk zur Arbeit ging. Später legte ich mich doch wieder aufs Ohr, schlief nicht, döste vor mich hin, als es plötzlich einen dumpfen, ohrenbetäubenden Knall gab. Es klang wie ein Bombeneinschlag. Das Haus an der Bahnhofstraße, in dem wir wohnten, erzitterte, Fensterscheiben barsten. Mein erster Gedanke war: ein Unfall im Stahlwerk. Ich rannte auf den Balkon.

70 Meter hohe Flammen

Nein, es war nicht das Stahlwerk, über dem Ölwerk stand eine schwarze Rauchwolke. Die Flammen sollen bis zu 70 Meter hoch gewesen sein. Die Sirene heulte, Krankenwagen, Feuerwehr, Polizei rasten durch die Stadt. Ich schnappte mir meinen Fotoapparat, legte einen Film ein, rannte zur Unfallstelle, nur ein paar Hundert Meter von unserer Wohnung entfernt. Alles war abgesperrt, verstörte Mitarbeiter des Ölwerks und Schaulustige drängten sich. Es sah aus wie im Krieg. – Schnell sprach sich herum: Es hat Tote gegeben.

Ich, der damals schon für die SZ als Hobbyfotograf Bilder machte, schoss heimlich ein paar Aufnahmen. Viel war nicht drauf zu sehen. Trotzdem ging ich ins Labor, entwickelte den Film, machte Abzüge, rannte in die Kreisredaktion der SZ. Ich wusste, dass die Fotos für die nächste Ausgabe bis zum frühen Nachmittag fertig sein mussten.

Damals fuhr täglich ein Kurier, holte Fotos und Manuskripte ab, brachte sie nach Dresden in die Druckerei. In der Redaktion herrschte Hektik, eine Stimmung aus Nervosität und Fassungslosigkeit. Die Reaktion auf meine Fotos war ganz anders als erwartet, die Begeisterung hielt sich in engen Grenzen. Ob ich nicht wüsste, dass man da nicht fotografieren darf, raunte mich der Redakteur an. Ich musste die Fotos abgeben, die Negative auch. Die Bilder wurden nie veröffentlicht, ich habe sie nicht zurückbekommen.

Doch verschweigen konnten die Medien das Unglück nicht. Am nächsten Tag erschien in der SZ eine kurze Meldung. Von einem Brand im Riesaer Ölwerk war die Rede, dass es vier Tote gegeben habe und noch fünf Menschen vermisst würden. Einen weiteren Tag später war von sieben Toten die Rede und dass es trotz intensiver Suche noch nicht gelungen sei, drei Vermisste zu finden. 

In der Stadt gab es Gerüchte, unter den Getöteten befinde sich auch ein Schüler. Irgendwie kam mir ein absurder Gedanke. Benno, mit dem wir am Sonnabend so fröhlich Fasching gefeiert hatten, erzählte mir dort, dass er ab Montag im Ölwerk einen Ferienjob beginnen werde. Er wird doch nicht ...? Sofort verwarf ich den Gedanken. Doch dann wurde es Gewissheit. Benno, der Schulfreund aus der Parallelklasse, der immer Fröhliche, war tot. Er wurde nur 17 Jahre alt. Der erste Tag Ferienarbeit war auch sein Letzter.

Und nicht nur das. Auch die Mutter einer Klassenkameradin wurde getötet. Sie war in der HO beschäftigt, das Gebäude befand sich neben dem Ölwerk. Ihr Kolleginnen hatten den Raum schon verlassen, die Frau stand noch in der Küche und wusch ab, als sich die Explosion ereignete. Insgesamt zehn Menschen kamen ums Leben, 39 wurden teils schwer verletzt. Es hätte noch viel schlimmer kommen können. Weil sich die Explosion in der Mittagszeit ereignete, waren viele Arbeiter nicht an ihrem Arbeitsplatz, sondern in der Kantine.

„Es hatte sich so eingebürgert“

Der Brand hatte sich in der noch im Probebetrieb befindlichen Extraktionsanlage ereignet. Dort wurden für die technologischen Prozesse große Mengen Leichtbenzin benötigt. Die Räume unterlagen brandschutztechnisch der höchsten Gefahrenklasse. Daneben befand sich die Absackerei. Die Brandmauer zwischen beiden Räumen war vorschriftswidrig durchbrochen worden. 

In der Absackerei entstand eine Zündquelle, die zur Explosion eines Benzin-Luft-Gemisches in der Extraktionsanlage führte. Das ergab sich aus der Gerichtsverhandlung am Bezirksgericht Dresden, über die das „Neue Deutschland“ am 6. Juli 1979 berichtete. Die Ursache für das Unglück waren schlicht gesagt Schlamperei und fehlende Kontrolle. „Das haben wir immer so gemacht“, „Es hatte sich so eingebürgert“, „Als ich das übernahm, wurde es auch schon so gemacht. Ich sah keine Notwendigkeit, etwas zu ändern“ und ähnlich waren laut ND die Aussagen der Angeklagten.

 Der Betriebsleiter wurde wegen fahrlässiger Brandverursachung und mehrfacher Verletzung des Arbeits- und Brandschutzes im schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Der ehemalige Direktor für Produktion und Technik und der ehemalige Leiter der Rohölabteilung erhielten drei Jahre und drei Monate. Alle drei waren ihrer Funktionen enthoben worden. Der materielle Schaden, der entstanden war, betrug rund 10,2 Millionen Mark. Außerdem wurde ein Produktionsausfall von 250 000 Mark erwartet, hieß es im ND.

Für mich und meine Schulfreunde waren die Ferien jedenfalls gelaufen. Viele wollten Fotos von Benno haben, obwohl das lustige Faschingsgeschehen so gar nicht zu dem traurigen Anlass passte. 

Niemals habe ich so viele Menschen auf dem Friedhof gesehen wie zu Bennos Beerdigung. Die ganze Schule schien anwesend, die Trauerhalle war völlig überfüllt, sodass wir draußen bleiben mussten. Oft bin ich an Bennos Grab gewesen, habe manchmal auch Blumen hingelegt. 

Seit ein paar Jahren ist das Grab verschwunden. Immer, wenn ich heute am Ölwerk vorbeikomme, muss ich an jenen 5. Februar 1979 denken. Ich habe den Knall im Ohr, die Bilder im Kopf von dem Tag, an dem Benno starb.

Dank gilt der Feuerwehr Meißen und dem Archiv des Neuen Deutschland für die Bereitstellung von Fotos und Textmaterial.


Sie wollen noch besser informiert sein? Schauen Sie doch mal auf  www.sächsische.de/riesa, www.sächsische.de/meissen, www.sächsische.de/radebeul, oder www.sächsische.de/grossenhain vorbei.