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Der Zug im Schnee

Vor fast 50 Jahren blockierte ein Personenzug die Strecke Dürrröhrsdorf – Neustadt. Wochenlang ging nichts mehr.

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Kein Vorankommen mehr: Anfang 1970 steckte dieser Personenzug bei Stolpen für mehrere Wochen in einer Schneewehe fest.
Kein Vorankommen mehr: Anfang 1970 steckte dieser Personenzug bei Stolpen für mehrere Wochen in einer Schneewehe fest. © Gottfried Wolf

Dürrröhrsdorf/Neustadt. Zweimal fuhren sich Züge der Brockenbahn in den vergangenen Tagen in Schneewehen fest. Sie mussten freigeschaufelt werden. Die Reisenden wurden abgeholt und wieder sicher ins Tal gebracht. Momentan ist in Schierke Endstation – winterbedingt!

Um das Malheur nachzuempfinden, muss man sich nicht einmal auf den höchsten Harzgipfel bewegen. Dem Weifaer Gottfried Wolf genügt ein Griff in seine Fotosammlung. Schnell hat er ein paar Schwarzweißfotos zur Hand. Sie zeigen, wie eine Dampflok in einer scheinbaren Schneewüste festsitzt. Von den Waggons, die sie zieht, sind inmitten der Schneewände nur noch die Dächer zu sehen. Man hört beim Betrachten der Bilder den Wind förmlich heulen, wie er die feinen Schneekristalle über die Waggons treibt. Gottfried Wolf bekam die Bilder von einem Arbeitskollegen, als er vor vielen Jahren bei Fortschritt in Neustadt arbeitete. Die spektakulären Aufnahmen machten damals die Runde, sagt er. Aufgenommen wurden sie vor fast 50 Jahren bei Stolpen. Damals hing auf der Strecke Dürrröhrsdorf – Neustadt ein Personenzug wochenlang im Schnee fest. Den Fahrgästen blieb nichts anderes übrig, als auf offener Strecke auszusteigen und durch den hohen Schnee zur Straße nach Helmsdorf zu stapfen in der Hoffnung, doch noch irgendwie weiter und an ihr Ziel zu kommen.

Zwischen drei und fünfeinhalb Meter hoch türmten sich die Schneemassen in den Bahneinschnitten.
Zwischen drei und fünfeinhalb Meter hoch türmten sich die Schneemassen in den Bahneinschnitten. © Gottfried Wolf

Es ist der 9. Januar 1970. Freitagabend. Der letzte Zug am Tag, der von Dürrröhrsdorf nach Neustadt fährt. Im Schlepptau hat er einen Triebwagen, weiß der Langenwolmsdorfer Roland Roch. Das sollte zum Verhängnis werden. Denn der Triebwagen ist ein paar Zentimeter breiter als die anderen Waggons. In einem Einschnitt nahe Langenwolmsdorf bleibt der Triebwagen in einer Schneewehe stecken. Der ganze Zug hängt daraufhin fest. Es geht weder vorwärts noch zurück. Die Hoffnung liegt auf der freiwilligen Feuerwehr. Die Kameraden, darunter Roland Roch, rücken aus, um den Zug freizuschaufeln. Vergeblich, gegen die Schneemassen und den Sturm können sie nichts ausrichten.

Die Waggons steckten in den Schneewänden fest. Im Hintergrund ist die Stadt Stolpen zu sehen.
Die Waggons steckten in den Schneewänden fest. Im Hintergrund ist die Stadt Stolpen zu sehen. © Gottfried Wolf

Im Bahnhof Stolpen wird ein Einsatzstab der Reichsbahndirektion Dresden, Verwaltung Anlagen, unter der Leitung des Oberbaukontrolleurs England gebildet. Seine Aufgabe besteht darin, die sieben Einschnitte, die beim Bau der Eisenbahntrasse auf einer Streckenlänge von 5,3 Kilometer notwendig waren, organisatorisch besser in den Griff zu bekommen. Wie es zum Winter 1969/70 in der Ortschronik von Langenwolmsdorf weiter heißt, haben die Einschnitte eine Gesamtlänge von reichlich zwei Kilometern. Die Schneemassen an den Hängen zu den Gleisen sind zwischen drei und 5,4 Meter hoch. Den Zug zu befreien, scheint zunächst unmöglich. „Es hat stark geweht. Zwischendurch gab es immer mal Phasen, in denen es taute. Danach frierte es gleich wieder“, erinnert sich Roland Roch. Die Folge: Die Schneemassen wurden zu einem festen Eispanzer, dem man mit Hacke und Schaufel nicht zu Leibe rücken konnte. Um diesen zu beseitigen und den Schnee zu lockern, muss schwere Technik ran. Schließlich wird eine Pioniereinheit aus Pirna an die Unglücksstelle beordert, um den festgefrorenen Schnee zu sprengen. Mithilfe von zwei Schneeschleudern, die laut Ortschronik 100 Stunden im Einsatz sind, wird der Schnee dann aus dem Bahneinschnitt geworfen. Das verläuft nicht ohne Probleme. Auch das Schotterbett des Gleises wird dabei angegriffen; Steine fliegen in Richtung Dorf, verursachen Schäden, beispielsweise an Fensterscheiben und einem Wellasbestdach.

NVA-Soldaten sprengten schließlich den festgefrorenen Schnee.
NVA-Soldaten sprengten schließlich den festgefrorenen Schnee. © Gottfried Wolf

In mühevoller Arbeit wird zunächst der Triebwagen und anschließend Waggon für Waggon freigelegt. Jeder Wagen ein Erfolg. Waggon für Waggon wird der Zug einzeln nach Dürrröhrsdorf zurückgezogen. Laut Ortschronik mussten rund 33 000 Kubikmeter Schnee beseitigt werden, eine unvorstellbare Menge. Bis zu 1 090 Arbeitskräfte waren im Einsatz – 870 am Tage und 220 in der Nacht. Nach den Aufzeichnungen von Roland Roch blockierte der Zug zwei Monate lang die Bahnstrecke. Erst am 8. März 1970 konnte diese für den Verkehr wieder freigegeben werden.

Die Fotos des Weifaer Gottfried Wolf liegen auch Roland Roch vor. Aufgenommen wurden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Stolpener Künstler Hellmut Fuchs. „Er war der Einzige, der im damaligen Winter fotografierte“, sagt Roland Roch. Der Maler und Fotograf Hellmut Fuchs war ein Chronist seiner Zeit. Er gilt als Stolpener Urgestein. Er hinterließ unter anderem eine umfangreiche Fotosammlung. Für die Verdienste für seinen Heimatort wurde ihm anlässlich der 775-Jahr-Feier der Burgstadt im Jahr 1993 die Ehrenbürgerschaft verliehen.

Landesweit wird in diesen Tagen an den Winter 1978/79 erinnert. Ein Temperatursturz und starker Schneefall führten DDR-weit zu massiven Stromausfällen, legten Teile des öffentlichen Lebens für einige Tage fast lahm. Doch es war bei weitem nicht der einzige Winter mit Extremen, wie die Fotos aus dem Jahr 1970 zeigen. Dass wir uns daran erinnern können, verdanken wir Hellmut Fuchs – und Gottfried Wolf, der in seiner Fotosammlung für die SZ kramte.