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Die Fahne von Priebus

Einstige Einwohner des heute polnischen Ortes fuhren zurück zu den Stätten ihrer Kindheit – mit einem ganz besonderen Gepäckstück.

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Alfred Junge, der in Lipna (Leippa) geboren wurde, Ewelina Rzepka aus dem polnischen Gemeindeamt, Bürgermeister Mariusz Strojny, Johanna Hoffmann und Egon Rother (v.l.n.r.) im Eingangsbereich des Bürgermeisterbüros am Marktplatz in Przewóz.
Alfred Junge, der in Lipna (Leippa) geboren wurde, Ewelina Rzepka aus dem polnischen Gemeindeamt, Bürgermeister Mariusz Strojny, Johanna Hoffmann und Egon Rother (v.l.n.r.) im Eingangsbereich des Bürgermeisterbüros am Marktplatz in Przewóz. © Foto: Steffen Bistrosch

Von Steffen Bistrosch

Priebus. Über Unebenheiten auf dem Asphalt hüpft der kleine weiße BMW mit dem Kennzeichen aus Frankfurt (Main). Auf der Rückbank klappern Gehstöcke, im Kofferraum der Rollator. Hanne, Alfred und Egon wollen nach Hause. Alle paar Kilometer kommen Ortsschilder von Dörfern in Sicht. Die Häuser in den kleinen Orten liegen meist verstreut voneinander entlang der Hauptstraße. 

Menschen sind kaum unterwegs, die Kneipen haben hier für immer geschlossen, ebenso wie der Dorfkonsum, die Schule, der Kindergarten. Hier gibt es noch eine einsame Bäckerei, dort eine Agrargenossenschaft. Ein paar neue Dächer, frische Fassaden, gepflegte Gärten trotzen leerstehenden Immobilien. Das Leben gibt nicht auf. Manchmal kommt der nahe Fluss ins Blickfeld, der Ausblick atemberaubend. Die jungen Leute sind trotzdem weg und bleiben es. Schon der Arbeit wegen. Dafür kommen Fahrradtouristen. Der Natur wegen. Manchmal bleiben sie eine Nacht, bevor sie weiterfahren. Manchmal kommt ein Armeefahrzeug entgegen oder ein Transporter oder ein Pkw, meist mit polnischen Kennzeichen.

Der alte Mann mit den widerspenstigen weißen Haaren am Steuer des Fahrzeugs erzählt von früher. Er gestikuliert mit den Händen. Die Stimme ist fest, die Erinnerung klar wie der Blick aus den blauen Augen, die viel gesehen haben. Sehen mussten. Früher war alles anders. Diese Straße gab es damals noch nicht, sie führte auf der anderen Seite des Flusses entlang. Hier war nur ein Weg durch den dichten Kiefernwald. Die Leute arbeiteten hart, auf dem Feld, in den Holzfabriken, den Ziegeleien, Tongruben, Kiesgruben, Papierfabriken, Hütten, den Braunkohlestollen und der dampfenden Kleinbahn, die alles verband. Irgendwann fehlten die Männer, die Frauen arbeiteten in der „Heeresmunitionsanstalt Priebus“. Zwangsarbeiter kamen von irgendwoher, Gefangene von der Ostfront. Früher war Krieg. „Früher war es nicht besser“, sagt der alte Mann. „Anders“. Und „alles ist besser als Krieg“.

Keine Bitternis

Egon weiß, wovon er spricht. Er wurde 1931 geboren, auf der anderen Seite der Neiße, die seit fast 75 Jahren Polen und Deutschland trennt. Seine Heimat hat er damals aufgeben müssen, wie Millionen andere auch. Deren Nachkommen wohnen jetzt auf beiden Seiten des Grenzflusses. Das wissen die Menschen hüben wie drüben noch von den alten Zeiten. Viel mehr nicht. Am Kriegsende sollte es nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Egon alles aufgeben musste. Das erste Mal tat es nur am meisten weh. Die Schmerzen blieben lange Zeit. Bitternis verspürt er nicht. Wirklich nicht. „Es ist vorbei“, sagt er. Seine Hand zittert ein wenig, wenn er auf einzelne Häuser zeigt. Erinnerungen. „Hier war ich 1947 mit meinem Vater, er war in Kriegsgefangenschaft mit einem Soldaten, der aus dieser Wirtschaft stammte, und hat den Hinterbliebenen erzählt, wo er ihren Vater, Mann, Sohn in Russland begraben musste. „So war das“. Seine alte Schulfreundin Hanne sitzt mit im Auto. Sie war zum Kriegsende erst elf. Lebendig ist ihre Erinnerung dennoch.

Egon kehrt so oft wie möglich zurück in die Heimat. Aus Frankfurt am Main nach „Priebs“ an der Neiße, wie er die Stadt Priebus nennt. Alle haben sie früher so genannt, sagt er. Heute fahren sie, weil sie einen Termin haben. Beim Bürgermeister von Priebus. Den Termin hat der Jüngste im Bunde, der 82-jährige Alfred, organisiert, sein Großvater war Bürgermeister in Leippa. Der Ort liegt fünf Kilometer stromaufwärts von Priebus. Egon besitzt etwas, das er gerne den rechtmäßigen Besitzern zurückgeben will. Etwas von unschätzbaren Wert. Wie teuer sind Erinnerungen? Was kostet die Vergangenheit? Egon besitzt die Fahne des Ortes Priebus aus der Zeit vor den Nazis. Wer wann auf welchen Wegen diese Fahne geborgen und jahrzehntelang aufbewahrt und weitergereicht hat, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Die Dorfschmiede, an der die Fahne hing, gibt es nicht mehr. Nichts erinnert an das Gebäude. Egon hat die Fahne im Nachlass seines Bruders Heinz gefunden. Vereinbart hatten die beiden noch, eines Tages die Fahne an die Stadt zurückgeben zu wollen. Wenn, ja wenn ein würdiger Platz gefunden werden kann. Beim Wollen ist es dann geblieben. Die endgültige Entscheidung über den Verbleib der alten Fahne soll nun in Absprache mit dem Schlesischen Museum in Görlitz und der polnischen Seite erfolgen.

Der Bürgermeister der Stadt Priebus, Mariusz Strojny, wartet bereits auf den Eingangsstufen seines Amtssitzes auf die früheren Bewohner der Stadt. Die Besucher sind aufgeregt. Wie wird der Empfang sein? Wollen die Polen die Fahne überhaupt, was werden sie damit anstellen? Können wir Alten die Fahne, die Vergangenheit, die Erinnerung loslassen?

Unbegründete Ängste

Die Berührungsängste den Polen gegenüber sind unbegründet. Mariusz Strojny wird seine Besucher Egon Rother, Johanna Hoffmann und Alfred Junge auf das Herzlichste willkommen heißen, er wird seine Vorstellungen erläutern, er wird einen würdigen Platz für die uralte Fahne suchen und er wird gemeinsam mit den alten schlesischen Bewohnern einen passenden Anlass zur Übergabe finden wollen. Die Sprachbarriere überbrückt Alfred, einst Russischlehrer und später Hauptamtsleiter in der Partnergemeinde Krauschwitz. Die beiden „echten“ Priebuser Hanne und Egon werden sich mit dem jetzigen Bürgermeister der Stadt in den kleinen weißen BMW setzen und gemeinsam die Stätten ihrer Kindheit besuchen. Sie werden Strojny die Häuser zeigen, in denen sie wohnten. Den Schulweg. Die Spielplätze. Die Stelle am Kuhberg, an dem die Karussells bei den Heimatspielen standen. Sie werden am Haus des früheren Spielwarenladens Wolf vorbei fahren. An der ehemaligen Fleischerei Schöback. Der Handvoll vergessener Gasthäuser. Dem Marktplatz, auf dem der Jude Dr. Korn mit seiner Familie verhaftet und abgeführt worden ist. Bis zum früheren evangelischen Gemeindehaus, dorthin, wo sich heute das Amt der Gemeinde Priebus befindet geht die Reise.

Mariusz Strojny wird den Deutschen gegenüber sehr respektvoll und höflich und interessiert auftreten. Ein Empfang, den sich die Besucher nicht zu erhoffen gewagt hätten. Diese „offizielle“ Rückkehr in die Heimat wird sich in ihren Köpfen einprägen und damit andere Auffassungen überstrahlen. Aber zunächst müssen sie gemeinsam darüber beraten, welcher Platz denn der beste für die Fahne wäre. Die alten Leute werden nach Priebus zurückkehren. Mit einer Entscheidung für die Zukunft. Die kommen wird.

Die Geschichte wird fortgesetzt.