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Die Sachsen sind einfach nicht totzukriegen

Sachsen dürfte es gar nicht mehr geben, es ist das Land der Selbstmörder. Großer Irrtum.

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© dpa

Von Peter Ufer

Die Sachsen sind Selbstmörder, so erklärt die Statistik. Ach, du Schreck. In ganz Deutschland nimmt sich alle 45 Minuten ein Mensch das Leben, und die Sachsen sollen am meisten an sich Hand anlegen? Hochgerechnet dürfte es sie gar nicht mehr geben? Ni zu globn!

Doch eines stimmt: Jahrhundertelang standen die Sachsen auf Platz 1 der jährlichen Selbstmordrate. Ein Spitzenplatz. Das Volk stand stets so nah am Selbstmord, dass es sogar die erste Selbstmordstatistik Deutschlands aufstellte. Das war im Jahre 1784. Das Fatale an der Geschichte: Da die Sachsen die Ersten waren, waren sie auch die Einzigen. Die anderen zählten nicht mit, und so blieb ewig der Eindruck, der Sachse sei ein Opfer seiner selbst.

Tatsächlich wurde er immer wieder Opfer anderer. Die Nationalsozialisten versuchten einen Todesstoß. Sie verboten ihm 1938 die Sprache, weil sie angeblich nicht rein deutsch, sondern jüdisch war. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten SED-Funktionäre den Sachsen erneut kalt, entließen ihn in die Schmuddelecke der Nation, nahmen seinen Dialekt als höchste Albernheit des Kabaretts und größten anzunehmenden politischen Gau. Wer sächsisch babelten verhohnebibelte ja Ulbricht, den ersten Mann im Staat. Das durfte nicht sein.

Noch ein statistischer Beweis der angeblichen Nichtexistenz des Sachsen? Nach 1945 flüchteten die Sachsen wieder aus ihrem Land, weil Besetzer aus dem Osten kamen. Bis zum Bau der Mauer zog jeder Sechste weg, und danach flohen sie massenhaft über den Todesstreifen, nach statistischen Zählungen über zwei Millionen. 1952 wurde Sachsen aufgelöst und mutierte zu DDR-Bezirken.

Rein statistisch betrachtet kam der Sachse nicht mehr vor in Deutschland. Die Rest-Sachsen wurden hinter dem deutsch-deutschen Todesstreifen zurechtgestutzt, sodass man sie statistisch gar nicht mehr erfassen konnte. Als die übrig gebliebenen aufrechten Sachsen 1989 die Revolution anzettelten und die Mauer fiel, flüchteten wieder Menschen aus dem Land. Hunderttausende. Rein statistisch betrachtet gab es seit 1990 jährlich 20 000 Sachsen und 2 000 sächsische Haushalte weniger. 7.000 Ehescheidungen pro Jahr sprechen für sich. In Sachsen gibt es jährlich 50.000 Tote, 26.000 Krankenbetten. Pro Monat stirbt ein Kind in Sachsen, weil ihm Gewalt angetan wird. Außerdem ist in Sachsen der Bierkonsum am höchsten in Deutschland, 205 Liter pro Kopf, 50 Liter mehr als in Bayern. Ein kleines gewalttätiges Fluchtvolk im Delirium, wie soll das überleben?

Die CDU-Bundesregierung gab 1992 eine Studie in Auftrag, die herausfinden sollte, ob der Ostdeutsche, respektive der Sachse, aus der proletarisierten Gesellschaft überhaupt reif sei für die Demokratie, verlässlich und moralisch gefestigt. Die Ergebnisse widersprachen allen Erwartungen der damals noch Bonner Auftraggeber. Denn die Sachsen stürzten keinesfalls aus einer proletarisch dominierten Kultur in ein bürgerliches Wertevakuum, sondern sie waren moralisch gut gerüstet. Durfte das sein? Die Studie wurde nicht veröffentlicht, kam in den Giftschrank, und erst nach dem Regierungswechsel 1998 wurde sie herausgeholt. Das schreibt der Marketingexperte Alexander Mackat in seinem Buch „Das deutsch-deutsche Geheimnis.“

Als 1993 Helmut Kohl den Sachsen Steffen Heitmann als Nachfolger Richard Weizsäckers zum Kandidaten für die Wahl des Bundespräsidenten vorschlug, da trommelte es aus allen politischen Lagern Zetermordio. Der Mann sei ein nationales Unglück, ein rechter Konservativer, der laut Stern-Herausgeber Rolf Schmidt-Holtz, „die Westentasche Helmut Kohls nur als Logenplatz der Weltgeschichte“ missbrauche. Sein Befund: „überfordert und gefährlich“. Der „Spiegel“ enttarnte Heitmann als „Kohls Grüßonkel für den deutschen Spießer“. Ein Sachse als Bundespräsident, das war im Jahr 1993 einfach zu viel. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte.

Der Sachse lebt und hat Werte

Dass der Sachse nicht tot zu kriegen ist, dass er noch immer existiert, muss, rein statistisch betrachtet, ein Rechenfehler sein, eine Wahrscheinlichkeitslüge, der kleinste gemeinsame Nenner der historischen Abrechnung. „Sachsen, Sachsen! Ey! Ey! Das ist starker Tobak!“, meinte einst der alte Goethe. Der Islam gehört zu Deutschland, wulffte ein Bundespräsident und erledigte sich damit selbst. Dass der Sachse dazugehört, traute er sich nicht zu sagen, sonst hätte es sein Nachfolger vielleicht ebenfalls zurücknehmen müssen.

Denn der Sachse lebt und hat Werte. Es ist eine Mischung aus fortschreitender Individualität und zunehmendem Egoismus, Freiheitswillen, Toleranz und Kreativität auf der einen Seite, auf der anderen Seite herrscht aber zugleich sein Wunsch nach sozialer Sicherheit, Gemeinschaft, Vertrauen und Gerechtigkeit. Und das ist ein Ergebnis seiner Geschichte und der Wiedervereinigung. Der harte Bruch mit enttäuschten, aber zugleich erfüllten Hoffnungen bewirkte eine Neuorientierung, die viele zu pragmatischen Realisten werden ließ. Die Identifikation erfolgt über das eigene Bundesland, nicht die ehemaligen Grenzen der DDR. Heimatverbundenheit, die wieder erstarkende Identifikation mit den alten Landsmannschaften und die Renaissance der Mundarten gehört zum neuen Wertesystem.

Den Sachsen machte übrigens lange keiner den ersten Mordplatz streitig. Doch im Jahr 2011 wurden sie geschlagen, die Sachsen: Von den Bayern. Das zumindest sagt die Statistik.

Wie komisch der Sachse ist, erfahren Sie bei der Lesung unseres Autors am 13.9. auf Burg Stolpen.