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Platzeck: Russland-Politik muss auf den Prüfstand

Matthias Platzeck spricht im Interview mit unserer Redaktion über den 8. Mai, das Verhältnis zu Russland und die Herausforderungen durch Corona.

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Matthias Platzeck (66) ist seit 2014 Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums. Von 2002 bis 2013 war er Ministerpräsident Brandenburgs. An der Spitze der SPD stand Platzeck von November 2005 bis April 2006.
Matthias Platzeck (66) ist seit 2014 Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums. Von 2002 bis 2013 war er Ministerpräsident Brandenburgs. An der Spitze der SPD stand Platzeck von November 2005 bis April 2006. © imago images

Herr Platzeck, in wenigen Tagen jährt sich der Tag der Befreiung vom Nazi-Regime zum 75. Mal. Man hat das Gefühl, dass das Gedenken durch die Corona-Krise schier erdrückt wird. Geht es Ihnen auch so?

Ja, das ist leider so. Die Corona-Krise erdrückt im Moment alles. Besonders leid tut es mir um die Zeitzeugen. Für viele von ihnen wäre es nach 75 Jahren vielleicht die letzte Gelegenheit gewesen, noch einmal an einem würdigen Gedenken teilzunehmen. Das gilt sowohl für die Gedenkstunden zur Befreiung der Konzentrationslager als auch für die abgesagte Siegesparade am 9. Mai in Moskau. Dabei ist dieser bevorstehende Jahrestag besonders wichtig.

Warum?

Aus mehreren Gründen. Nicht nur wegen des runden Jubiläums. Es ist schade, in diesen Tagen auf ein eindrucksvolles Instrument der Geschichtsvermittlung verzichten zu müssen. Jahrestage wie diese gaben immer die Chance, dass Frauen und Männer als Zeitzeugen mit jungen Leuten, mit Schülern und Studenten über ihre Erfahrungen sprechen können. Und schließlich: Wir befinden uns inzwischen in einem Deutungskampf über Ursachen und Wirkungen des Zweiten Weltkrieges. Da muss man aufpassen, das manches nicht in die falsche Richtung geht.

Halten Sie es trotz der Umstände für möglich, den Anteil der Völker der Sowjetunion ausreichend zu würdigen?

Ich wünsche es mir. Aber ich sehe Tendenzen, die ich für bedenklich halte. Vor einigen Monaten verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution unter .anderem zu den Ursachen des 2. Weltkrieges. Diese Resolution beantwortet die Frage nach den Urhebern des Krieges so, dass Nazi-Deutschland und die Sowjetunion praktisch gleichermaßen Schuld tragen. Das wird der historischen Wahrheit nicht gerecht. Eine zweite Tendenz beobachte ich schon seit Jahren – den Versuch nämlich, den Anteil der Sowjetunion an der Befreiung Europas von der Nazi-Herrschaft in den Hintergrund zu rücken und zu relativieren. Dabei trug sie eindeutig die Hauptlast des Krieges.

Was meinen Sie damit?

Es geht um die Verschiebung von Relationen. Sehen Sie sich allein den medialen Aufwand an, mit dem an die Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 erinnert wird. Oder die überhöhte Bewertung der Schlacht in den Ardennen, die erst zum Jahreswechsel 1944/45 stattgefunden hat. Doch was eigentlich den Zweiten Weltkrieg in Europa entschieden hat, waren die Schlachten vor Moskau, um Stalingrad und im Kursker Bogen. Das waren die Hauptwendepunkte des Krieges. Für den britischen Premier Churchill und für US-Präsident Roosevelt bestand seinerzeit daran kein Zweifel.

Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau durch amerikanische Truppen jubeln die Insassen ihren Befreiern zu. US-amerikanische Soldaten befreiten am 29.04.1945 mehr als 30.000 Menschen aus dem Lager.
Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau durch amerikanische Truppen jubeln die Insassen ihren Befreiern zu. US-amerikanische Soldaten befreiten am 29.04.1945 mehr als 30.000 Menschen aus dem Lager. © dpa

Ist das Gedenken an den 8. Mai eine Chance, die belasteten Beziehungen zu verbessern?

Ich hatte große Hoffnungen, dass es im Umfeld des bevorstehenden Jahrestages zu Treffen von Spitzenpolitikern kommt. Am Rande von Gedenkfeiern gibt es immer die Gelegenheit, Gesprächskanäle wieder zu öffnen und den Dialog wieder in Gang zu bringen. Frankreichs Präsident Macron hatte die Einladung nach Moskau angenommen und seine Bereitschaft signalisiert, ungeachtet aller Schwierigkeiten wieder mehr Nähe zu Russland herzustellen.

Was sind die politischen Voraussetzungen, um das Verhältnis zu Russland zu entspannen?

Zunächst müssen wir uns anschauen, was in den letzten fünf, sechs Jahren passiert ist und wohin sich was entwickelt hat. Der Westen hat wegen des Krieges in der Ostukraine und der Annexion der Krim Sanktionen gegen Russland verhängt. Wenn man sich anschaut, was sich seitdem auf dem Kontinent verändert hat, muss man feststellen, dass durch die Sanktionen nichts besser, aber vieles schlechter geworden ist. Die Gefahr einer militärischen Eskalation ist gewachsen. Wir erleben, wie es das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri jüngst konstatiert hat, wieder eine Aufrüstungsspirale. Die politischen Beziehungen sind so gut wie eingefroren, die wirtschaftlichen Beziehungen haben gelitten, die Stimmungen in Russland sind antiwestlicher geworden. Wenn man das alles konstatiert, muss man die Kraft für das Eingeständnis aufbringen, dass der Weg der Sanktionen nicht erfolgreich war.

Wo liegt die Alternative?

Vielleicht ergibt sich angesichts der großen Herausforderung durch die Corona-Pandemie eine neue Chance für Verständigung und Zusammenarbeit. Um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise zu bewältigen, braucht es gemeinsame Anstrengungen im globalen Maßstab. Deshalb wäre es richtig, die Sanktionspolitik auf den Prüfstand zu stellen und neue Wege des Miteinanders zu finden. Bundeskanzlerin Merkel hat bei ihrem letzten Besuch in Moskau erklärt, dass die großen Probleme dieser Welt – und da hat es Corona noch nicht gegeben – ohne die Beteiligung Russlands nicht gelöst werden können. Das gilt für Flüchtlingsprobleme, für die Terrorbekämpfung, für den Klimaschutz. Mit einer großen Kraftanstrengung und viel politischer Weitsicht könnte es gelingen, einen neuen Anfang im Verhältnis zu Russland zu wagen.

Ohne die Beteiligung Russlands wird es keine Sicherheit und Stabilität in Europa geben. Warum fällt es so schwer, diese Erkenntnis zu beherzigen?

Das gehört zu den Erkenntnissen, die uns Willy Brandt und Egon Bahr als Architekten der Ost-Politik hinterlassen haben. Nach dem Ende des Kalten Krieges 1990 war die Hoffnung groß, alte Gegensätze und Feindbilder zu überwinden. Das ist nicht gelungen. Auch wenn die Enttäuschung darüber groß ist: Wir müssen nach einer friedlichen Koexistenz suchen, auch mit Staaten wie Russland, die keine Demokratie nach westlichem Muster geworden sind. Brandt und Bahr haben es in den 70er-Jahren gewagt, Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit einem kommunistischen Land zu suchen. Dann sollte es uns heute mit Russland irgendwie auch gelingen.

Markus Söder (CSU), Ministerpräsident von Bayern, besucht anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau die Gedenkstätte und legt am Internationalen Mahnmal einen Kranz nieder.
Markus Söder (CSU), Ministerpräsident von Bayern, besucht anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau die Gedenkstätte und legt am Internationalen Mahnmal einen Kranz nieder. © Sven Hoppe/dpa

Sie fordern, wieder mehr Nähe zu Russland herzustellen. Welche Mittel hat die deutsche Politik?

Wir haben Möglichkeiten und wir haben Schwierigkeiten. Ich habe sie gerade in meinem Buch „Wir brauchen eine neue Ostpolitik“ ausführlich beschrieben. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass deutsche Außenpolitik nicht im luftleeren Raum stattfindet. Da uns daran liegt, in der EU eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu vertreten, müssen wir uns mit den Partnern zu allen Fragen einigen. Dabei haben Politiker aus Polen und den baltischen Staaten vor den jeweiligen historischen Hintergründen zum Thema Russland wahrscheinlich eine etwas andere Sicht als zum Beispiel Italiener, Spanier oder Franzosen. Ich wünsche mir, dass wir polnische und baltische Bedenken berücksichtigen. Umgekehrt wünsche ich mir aber auch, dass Polen und Balten die Sichtweise zum Beispiel von Franzosen oder Deutschen respektieren und berücksichtigen.

Wo die Möglichkeiten liegen, hat Frankreichs Präsident Macron gezeigt, als er anregte, engere Bindungen zu Russland herzustellen. Schließlich ist Russland ein europäisches Land. Wenn Frankreich gemeinsam mit Deutschland solche Signale aussendet, dann bleibt das bestimmt auch in der EU nicht ohne Eindruck und Wirkung.

Die USA wollen das Projekt Nord Stream 2 wegen angeblicher einseitiger Abhängigkeit bei der Energieversorgung stoppen. Warum wagt es die Bundesregierung nicht, sich deutlich dagegen zu verwahren?

Um die Energiewende zu schaffen, werden wir in den nächsten Jahrzehnten nicht ohne Erdgas auskommen. Das hat auch Kanzlerin Merkel klargemacht. Die USA haben ihre Einwände anfangs mit den Interessen Polens und der Ukraine begründet. Inzwischen wird immer klarer, dass es den Amerikanern natürlich vor allem um den Verkauf ihres Flüssiggases geht. Das ist in Ordnung. Nur: Dann sollten sie das auch so deutlich sagen, statt politische Motive vorzuschieben.

Das Gespräch führte Frank Grubitzsch.

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