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„Diese Krankheit lässt Frauen verzweifeln“

Dr. Jens-Peter Sieber, Chefarzt der Plastischen Chirurgie im Pirnaer Krankenhaus, über Lipödeme, Vorurteile, zögerliche Kassen und Therapien.

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Dr. Jens-Peter Sieber, Chefarzt der Klinik für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie am Klinikum Pirna, Bild einer Lipödem-Patientin: „Nach meiner Erfahrung ist eine Fettabsaugung die sinnvollste Therapie.“
Dr. Jens-Peter Sieber, Chefarzt der Klinik für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie am Klinikum Pirna, Bild einer Lipödem-Patientin: „Nach meiner Erfahrung ist eine Fettabsaugung die sinnvollste Therapie.“ © Norbert Millauer

Herr Dr. Sieber, in der nächsten medizinischen Vorlesung für jedermann widmen Sie sich dem Thema Lipödem. Diese Krankheit dürfte vielen noch recht unbekannt sein.

Ja, das ist in der Tat so. Dabei gibt es die Krankheit schon lange, ist aber früher nicht als solche erkannt worden. Dass es sich dabei um eine ernstzunehmende, schwere und chronische Erkrankung handelt, ist in der Gesellschaft noch nicht angekommen. Auch bei Medizinern fehlt teilweise noch die Akzeptanz. Mit dem Vortrag wollen wir Betroffene ermutigen, sich untersuchen und behandeln zu lassen.

Was ist eigentlich ein Lipödem?

Lipödem ist eine Erkrankung des Fettgewebes. Dabei kommt es einerseits zu einer Zunahme des Fettgewebes und anderseits zu einer erhöhten Durchlässigkeit der kleinsten Blutgefäße, die sich durch das Fettgewebe ziehen. Dadurch dringt Wasser ins Fettgewebe und sammelt sich dort, das Gewebe schwillt stark an.

Wer ist von dieser Krankheit betroffen?

Praktisch ausschließlich Frauen.

Wann tritt diese Krankheit typischerweise auf?

Ganz häufig bei einem Hormonwechsel, beispielsweise in der Pubertät, nach einer Schwangerschaft oder in der Menopause. Das muss aber nicht in jedem Fall so sein.

Welche Symptome sind typisch für eine solche Krankheit?

Betroffene leiden unter starken Schmerzen, diesen Spannungsschmerz spürt man im ganzen Gewebe. Auch die Haut darüber ist zunächst ganz straff und gespannt. Zudem sind Patienten anfälliger für Blutergüsse, aufgrund des aufgequollenen Gewebes ist häufig auch die Bewegung eingeschränkt. Mit der Krankheit geht oft auch eine gewisse Verzweiflung einher, weil die Frauen plötzlich zunehmen, ohne die Ursache dafür zu kennen.

Welche Körperregionen sind am häufigsten betroffen?

Hauptsächlich Ober- und Unterschenkel, Gesäß und Oberarme.

Ein schmaler Rumpf, dafür aber geschwollene Beine oder Arme, ist das ein typisches Erscheinungsbild eines Lipödems?

Ja. Die meisten betroffenen Frauen haben einen schlanken Oberkörper, dafür aber geschwollene Beine, die tonnenförmig nach unten verlaufen. Das gleiche Erscheinungsbild gibt es an den Oberarmen. Hände und Füße allerdings bleiben von der Schwellung ausgenommen. Und die Krankheit verläuft immer symmetrisch. Es ist nie nur ein Bein oder ein Arm betroffen.

Was sind die ersten Anzeichen dieser Krankheit?

Meist kommen zuerst die Schmerzen, es tut schon weh, wenn man einfach auf das betroffene Gewebe drückt. Oft tritt aber auch zuerst die Schwellung auf, die man daran spürt, dass plötzlich die Hosen am Oberschenkel spannen.

Handelt es sich beim Lipödem um eine chronische Krankheit?

Das Lipödem ist eine chronische und fortschreitende Krankheit. Nach derzeitigen Erkenntnissen wird der Zustand der Patienten ohne Behandlung meistens schlechter.

Welche Ursachen hat ein Lipödem?

Der momentane Stand ist: Man kennt die Ursachen einfach nicht. Man weiß, dass dieser Krankheit häufig eine Hormonumstellung vorausgeht, was aber nicht in jedem Fall zwingend sein muss. Es treten auch familiäre Häufungen auf, was aber nicht heißt, dass Lipödeme direkt vererbt werden.

Die Ursachen sind also noch nicht abschließend erforscht?

Ganz und gar nicht. Das Unwissen ist noch enorm groß, selbst bei Medizinern.

Also lässt sich ein Lipödem auch nicht zweifelsfrei diagnostizieren.

Nein, es ist eine schwierige Diagnose. Es gibt keinen auf einer Pathologie beruhenden Befund wie bei anderen Krankheiten, wo eine Gewebeprobe entnommen und untersucht wird und man dann zweifelsfrei sagen kann: Es ist diese oder jene bestimmte Krankheit. Ein Lipödem lässt sich nur anhand der Entstehungs- und Krankengeschichte sowie einer körperlichen Untersuchung des Patienten feststellten.

Anhand des äußeren Erscheinungsbildes wird Frauen oft vorgeworfen, ihr Lebensstil sei schuld an der Erkrankung.

Nein, der Lebensstil löst ein Lipödem nicht aus. Es ist eine leidvolle Krankheit, denn welche Frau läuft schon gern so herum? Oft wird dann gleich über die geurteilt, dass sie zu viel essen, zu wenig Sport treiben und dadurch zunehmen. Doch daran liegt es nicht. Fest steht aber: Disziplin bei der Ernährung verbessert die Prognose und die Krankheit. Wer ein Lipödem hat und versucht, nicht zuzunehmen, sondern abzunehmen, bekommt die Krankheit besser in den Griff.

Wie verläuft diese Krankheit?

In mehreren Stadien. Im ersten Stadium vermehrt sich der Umfang, beispielsweise am Oberschenkel, leicht. Im zweiten Stadium ist eine große Schwellung und oft eine sehr grobporige Orangenhaut zu sehen. Im dritten Stadium ist die Schwellung äußerst stark, oft hängen richtige Hautlappen herunter. Die Schmerzen beginnen bereits im ersten Stadium.

Wie lässt sich ein Lipödem behandeln?

Es gibt zunächst eine konservative Behandlung. Eine sogenannte Kompressionsbehandlung, denn das Wasser muss raus aus dem Gewebe. Es beginnt meist mit einer Entstauungstherapie, dabei wird das Wasser herausgedrückt, Patientinnen verlieren da schon mal sechs bis acht Liter Wasser. Danach müssen Betroffene spezielle Kompressionswäsche tragen. Sport ist in dieser Phase auch sehr wichtig, weil eine stärkere Muskulatur das Wasser besser herausdrückt. Auch eine kontrollierte Ernährung ist wichtig, weil die Situation schlimmer wird, wenn man zunimmt. Zwar verschwindet beim Abnehmen in der Regel nicht das Lipödem-Fett, das Missverhältnis von Rumpf und Beinen bleibt. Dafür verschwindet aber das andere Körperfett, dadurch verbessern sich die Beschwerden.

Und wenn die konservative Behandlung nicht mehr anschlägt?

Dann muss das Fett operativ abgesaugt werden. Bei einer solchen Operation saugt man schon mal drei bis fünf Liter Fett pro Bein ab. Eine OP reicht auch nicht aus, häufig sind drei oder vier Absaugungen notwendig. Man kann nicht alles Fett auf einmal wegnehmen. Zwischen den Operationen liegt jeweils eine Pause von drei bis sechs Monaten.

Lange Zeit wogte ein Streit darüber, ob Krankenkassen die Kosten für eine solche Fettabsaugung übernehmen. Bislang waren die Kassen da sehr zögerlich, worunter viele Patientinnen litten.

Bislang waren es eher Einzelfallentscheidungen, ob diese Operation bezahlt wird oder nicht. Dass die Kassen dabei so restriktiv waren, lag wohl daran, dass es laut deren Auffassung bislang keine ausreichend repräsentativen Studien gab, ob eine Fettabsaugung bei einem Lipödem notwendig ist. Aus meiner Erfahrung kann ich aber sagen: Diese Absaugung ist die sinnvollste Therapie.

Wie ist der aktuelle Stand?

2018 gab es ein Urteil des Bundessozialgerichts, nachdem Krankenkassen keine Fettabsaugungen bezahlen müssen. Jetzt aber gibt es vom 19. September 2019 eine befristete Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) – ein Gremium, in dem Krankenkassen, Kliniken, Ärzte und Politiker vertreten sind – dass ab dem dritten Lipödem-Stadium Fettabsaugungen unter bestimmten Voraussetzungen von den Kassen bezahlt werden können. Parallel dazu soll es eine vom GBA in die Wege geleitete Erprobungsstudie geben.

Ist ein Lipödem generell heilbar?

Nein, man kann nur versuchen, den Fortschritt aufzuhalten.

Besteht also nach einer OP die Gefahr, dass die Symptome wieder auftreten?

Fettzellen können sich nach der Geburt nicht mehr teilen, sondern nur größer werden. Die Fettzellen, die einmal abgesaugt sind, kommen nicht wieder. Aber die übrigen Fettzellen können durchaus wieder größer werden, wenn sich Wasser einlagert. Eine generelle Aussage lässt sich nicht treffen, es gibt zum Thema Lipödem noch zu viele Fragezeichen.

Muss nach einer Fettabsaugung die Haut per OP wieder gestrafft werden?

Das ist nicht unbedingt nötig, bei Lipödem-Patientinnen strafft sich die Haut nach der OP oft von selbst wieder. Das ist aber von Fall zu Fall verschieden. Bei fettleibigen Patienten, die rasch viel Gewicht verloren haben, kommt man um eine solche Straffung nicht herum. Bei Lipödem-Patientinnen ist das aber nicht immer nötig.

Wollen Sie Betroffenen mit der Vorlesung auch Mut machen, sich zu offenbaren?

Ja, es ist mir wichtig, dieses Thema aus der Unverständnis-Ecke herauszuholen. Die Vorlesung soll auch einen Anstoß jenen Menschen geben, die glauben, diese Krankheit zu haben, zum Arzt zu gehen und die Beschwerden behandeln zu lassen. Den Patientinnen muss aber klar sein: Ein Lipödem ist eine fortschreitende Krankheit, Betroffene müssen das Ihre zur Therapie beitragen – eine Entstauungs- und Kompressionstherapie machen, auf die Ernährung achten, Sport treiben und sich notfalls operieren lassen. Zudem ist es immer gut, sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen, offensiv mit ihr umzugehen und sich ärztlichen Rat zu holen.

Das Gespräch führte Thomas Möckel.

Vorlesung zum Thema „Mythos Lipödem: Was steckt wirklich hinter den dicken Armen und Beinen?“, 16.10., 16.30 Uhr, Helios Klinikum Pirna, Struppener Straße 13

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