Wie Schul-Mathe hilft, die Corona-Regeln zu umradeln

Dresden. Es sich einfach zu machen, ist nicht ihr Ding. Herausforderungen findet sie spannender. Und die Ausgangsbeschränkungen als Folge der Corona-Pandemie waren für Fiona Kolbinger eine echte Herausforderung. Wie nur soll sich eine Hobby-Radlerin, die lange Kanten bevorzugt und schon mal zwölf Stunden am Stück auf dem Sattel sitzt, daran halten? Ihre Lösung war so außergewöhnlich wie kreativ.
Am 7. April hatte das Oberverwaltungsgericht in Bautzen die Bewegungsfreiheit in Sachsen auf 15 Kilometer um den Wohnbereich begrenzt. „Das wollte ich mal wörtlich nehmen“, erzählt sie. Mithilfe eines Routenplaners entwarf sie eine Strecke, die immer genau 15 Kilometer von ihrer Wohnung im Dresdner Stadtteil Striesen entfernt ist. Heraus kam ein 160 Kilometer langer Rundkurs durch Pirna, Kesselsdorf, Radebeul, Moritzburg, Ottendorf-Okrilla und Dürrröhrsdorf-Dittersbach, den sie innerhalb von sechs Stunden abstrampelte.
Das allein war der 24-Jährigen noch zu langweilig. Der Kreis sollte „ein Innenleben bekommen“ und wieder eine Art Muster ergeben. Kolbinger bediente sich dazu bei der euklidischen Geometrie. „Ich bin an jeweils einem Tag den Peripheriewinkelsatz, den Mittelpunktswinkelsatz und den Satz des Thales abgefahren“, listet sie auf. Wer an dieser Stelle nicht hinterherkommt, muss sich nicht grämen. „Ich hatte früher Mathe-Leistungskurs und hätte beinahe Mathe studiert“, schiebt sie als Erklärung schnell hinterher.
Sie spielt auch Bratsche im Orchester
Um es noch besser verstehen zu können, sollte man wissen, dass Fiona Kolbinger eine junge Frau ist, die man als hochbegabt bezeichnen darf. In der Schule übersprang sie zwei Klassen, studierte Medizin, bekam für ihre Dissertation vom Gutachter ein Summa cum laude. Und das Radfahren ist nur eines ihrer zeitintensiven Hobbys, sie spielt auch Bratsche in einem Orchester. Vor gut einem Jahr zog sie von Heidelberg nach Dresden, arbeitet hier als Assistenzärztin an der Uniklinik und forscht an robotergestützten Enddarmoperationen.
Bekannt und vielleicht sogar ein bisschen berühmt wurde sie vergangenen Sommer durch ihren Sport. Bei ihrer ersten Teilnahme am Transcontinental Race, einem extremen Radrennen, bei dem die Teilnehmer selbst die optimale Route zwischen Burgas in Bulgarien und Brest in Frankreich finden und absolvieren müssen, ließ sie alle Frauen und auch Männer hinter sich. Nach zehn Tagen, zwei Stunden, 48 Minuten und gut 4.000 Kilometern kam sie als Erste an der Atlantikküste an. Das hatte vor ihr noch keine Frau geschafft. Das Medieninteresse war groß und global.Sie gewann nicht, weil sie am meisten trainiert hatte, sondern weil sie am besten vorbereitet war. Sie hatte einen Plan. Ohne geht es nicht. Und als die Ausgangsregelungen ihren Aktionsradius radikal beschränkten, brauchte sie einen neuen. Zunächst fuhr sie sämtliche Straßen der Landeshauptstadt ab – 106 Kilometer in fünf Stunden. Dann kamen die Umrundung Dresdens und die geometrischen Figuren dran.

Weitere Musterfahrten sind vorerst nicht geplant. Die Beschränkungen wurden aufgehoben, zumindest fast alle. Die Grenze nach Tschechien ist allerdings weiterhin dicht, deshalb radelt sie nun ausschließlich durch den sächsischen Teil des Erzgebirges – an freien Tagen auch gerne mal zwölf Stunden am Stück mit nur 18 Minuten Pause, gegessen wird während des Fahrens. „Das ist, wenn man so will, ein positiver Nebeneffekt der Pandemie. Ich lerne meine neue Heimat besser kennen. Es gibt wirklich sehr schöne Ecken in Sachsen“, hat sie festgestellt.
Ihre Daten lädt sie auf einer Fitness-App hoch, im Internet kann man sich die Routen anschauen. Mehr als 10.000 folgen ihr bereits. Und mancher fragt sich, wie man in diesen Zeiten des medizinischen Ausnahmezustandes so oft und so lange auf dem Rad unterwegs sein kann. Sie hat diese Kommentare auch gelesen. „Zum einen arbeite ich in der Chirurgie“, sagt sie. „Mit Corona-Patienten habe ich keinen Kontakt.“ Auf verschiebbare Operationen wurde verzichtet, Ärzte und Pfleger in zwei Teams eingeteilt, um einsatzfähig zu bleiben, sollte sich in einer Gruppe jemand infizieren. „Wir haben das sehr, sehr gut im Griff, weil mit ganz viel Augenmaß gehandelt wurde“, findet sie.
Kontaktlos selbst bei einem Platten
Und das gilt auch für ihre Radtouren, argumentiert sie. „Ich bin da völlig autark, komme komplett allein zurecht, selbst wenn ich irgendwo auf der Landstraße einen Platten habe. So vermeide ich jegliche soziale Kontakte, das ist genauso unbedenklich, als wenn ich zu Hause auf dem Sofa sitzen würde.“ Ausdrücklich wirbt sie für Individualsport, also kontaktlosen, in diesen Zeiten. „Sollte sich die Lage verschlechtern, hätte ich selbstverständlich keine Zeit mehr zum Radfahren.“Auf einen Wettkampf muss sie sich ohnehin nicht vorbereiten, die wurden alle abgesagt oder verschoben, auch das für Juli geplante Transcontinental Race. Fiona Kolbinger macht jetzt ihre ganz persönlichen, mathematischen Rennen.