Der Olympiasieger mit den drei Herzen ist tot

Aufgeben war für Hartwig Gauder keine ernsthafte Option. Mit dieser Einstellung nahm der einstige Weltklasse-Geher die längste olympische Leichtathletik-Distanz in Angriff, marschierte zum Olympiasieg von Moskau 1980 sowie zu Gold bei Welt- und Europameisterschaften. Seinen größten Kampf bestritt der Erfurter aber erst nach seiner Leistungssport-Karriere.
Eine Virusinfektion hatte sein Herz so stark geschädigt, dass er erst mit einem Kunstherzen und seit 1997 mit einem Spenderherz leben musste. Zu einem Jahrestag der Transplantation hatte Gauder gesagt, dass er 42 Jahre mit seinem eigenen Herzen gelebt hatte. Mit seiner zweiten Chance wollte er gerne die gleiche Zeit noch einmal nutzen. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Am Mittwoch starb Hartwig Gauder an den Folgen eines Herzinfarktes. Er wurde 65 Jahre alt.
In seinen 23 Jahren mit dem Spenderherz wurde er nicht müde, seine Erfahrungen mit dem Geschenk eines anderen Menschen weiterzugeben. Er warb für ein bewusstes Leben. „Fürchte dich nicht, langsam zu gehen, fürchte dich nur, stehenzubleiben“, steht als Motto in seinem Buch „Die zweite Chance“. Dieser Spruch war auch als Lebensmotto an seinem Computer-Bildschirm geheftet.
Die Herz-Leistung sank auf nur noch 16 Prozent

Ganz behutsam war er nach der Schockdiagnose, dem schwierigen Leben mit dem Kunstherzen und der Transplantation wieder ins Leben zurückgekehrt. Er stellte sich dem Schicksalsschlag, bei dem er sich einzig den Vorwurf machte, nicht rechtzeitig einen Arzt konsultiert zu haben, als er die Beschwerden gespürt hatte. Eine einstige Geflügelmastanlage war ihm zum Verhängnis geworden. Die musste er bei seinem Architekturstudium auf einem von der Sowjetarmee verlassenen Gelände vermessen. Das Gebäude war mit Bakterien verseucht, Gauder infizierte sich, sein Herz wurde angegriffen, die Leistung sank auf nur noch 16 Prozent.
Bei einer Buch-Präsentation erzählte der Thüringer, wie sich die Furcht, sein Herz zu verlieren, in Energie gewandelt hatte. „Anstatt mich zu bemitleiden, begann ich etwas zu tun“, beschrieb er seine bewusste Rückkehr ins Leben. „Nichts war mehr selbstverständlich für mich und vieles, worauf ich vorher kaum geachtet hatte, wurde wertvoller. Lächelte ich, bekam ich auch ein Lächeln zurück, und mir fiel sofort alles leichter. Ich konzentrierte mich auf die angenehmen, aufbauenden Situationen meines Lebens.“
Als Leistungssportler auf einer extremen Ausdauerstrecke war Hartwig Gauder im wahrsten Sinne an seine Grenzen gegangen. Er kannte seinen Körper, lebte seinen Ehrgeiz aus. Dabei war er ein Exot in der DDR-Nationalmannschaft als gebürtiger Schwabe. In Vaihingen an der Enz war er zur Welt gekommen, die Mutter erbte 1960 aber ein Haus in Ilmenau, die Familie zog in den Osten.
Nach dem EM-Titel kein Familienbesuch

Als Gauder 1986 bei der EM in Stuttgart gewann, feierte ihn ein besonderer Fanklub. In seinem Buch beschreibt er die damalige und inzwischen kaum noch nachvollziehbare Schizophrenie der Abgrenzung. „Ich war gerade Europameister geworden, durfte aber meine Verwandten, die aus Vaihingen/Enz angereist waren, meinen Schwiegervater und seinen Freund nach dem Wettkampf nicht treffen.“. Gauder erlebte aber in Split 1990 mit EM-Bronze, wie zwei deutsche Mannschaften zur Eröffnung ins Stadion einliefen und eine gemeinsame deutsche Mannschaft am Finaltag durchmischt ausmarschierte. Im BRD-Auswahldress ging er 1991 in Tokio zu WM-Bronze, 1992 in Barcelona wurde er noch einmal Olympia-Sechster.
Durch seine Krankengeschichte blickte Gauder distanziert auf seine Auswahlkarriere: „Der Hochleistungssport verleitet dazu, ausschließlich ein Ziel zu sehen und sich selber zu wichtig zu nehmen.“ Das ergab sich für ihn „zwangsläufig, sonst erreicht man nichts“. Er war auch stolz auf sich und alle, die ihm beim Olympiasieg geholfen hatten. Doch nach seiner Transplantation „und mit Abstand betrachtet“, formulierte er, „hat man diesen Erfolg damals überbewertet. Ich mich auch.“
Die Angst, es nicht über die Straße zu schaffen

Seine Sicht auf das Leben änderte sich, als ihn das kranke Herz zwang, sich mit dem Tod auseinandersetzen zu müssen. Das verschaffte ihm eine neue Sicht auf das Leben, in das er sich mit dem Spenderherz stückchenweise zurücktastete. „Es war unsagbar schwierig, wieder zu joggen“, berichtete er. „Ich musste mich zwingen, an einer Ampel über die Straße zu gehen. Ich hatte Angst, das Rot kommt zu schnell. Es klappte. Nach sechs Wochen schaffte ich 200 Meter. Langsam ging es vorwärts. Ich habe Stück für Stück an mir gearbeitet.“
Gut zwei Jahre nach der Transplantation kam Hartwig Gauder beim New-York-Marathon ins Ziel. Leichtsinnig sei das nicht gewesen, meinte er und nannte es kalkulierte Risikobereitschaft, die ihn trieb. Und er hoffte, mit seinem Beispiel andere motivieren zu können, sich etwas zuzutrauen. In Manhattan erfüllte er sich gehend einen Traum. 2003 stieg er als erster Mensch mit transplantiertem Herzen auf den Fuji, den höchsten Berg Japans. Beide Leistungen bekamen ein weltweites Medien-Echo. Das nutzte Gauder, um für Organspenden zu werben.

Im November 2019 hatte er im MDR-Riverboat erzählt, dass seine Nieren ihm inzwischen größere Sorgen bereiteten als das Herz. Eine Nieren-Transplantation wäre nötig gewesen, die Wartezeit hätte acht bis zehn Jahre betragen. Seine Frau wäre für eine Lebendspende bereit gewesen, erzählte Gauder – und warb wie bei vielen anderen Gelegenheiten für Organspenden. Dafür hatte er sich auch als Generalsekretär im Verein Sportler für Organspende sowie in weiteren Gremien engagiert. Der Diplom-Architekt arbeitete am Universitätsklinikum Jena und später im Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit.