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„Ich wurde als Kind missbraucht“

Eine junge Frau aus Bautzen erzählt ihre Geschichte. Sie will andere Betroffene ermutigen, sich Hilfe zu suchen.

Von Theresa Hellwig
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An einer Brücke bei Radibor traf sich die damals 13-Jährige mit dem Mann, der sie missbrauchte. Mit der SZ ging sie zum ersten Mal wieder dorthin.
An einer Brücke bei Radibor traf sich die damals 13-Jährige mit dem Mann, der sie missbrauchte. Mit der SZ ging sie zum ersten Mal wieder dorthin. © Steffen Unger

Bautzen. Eine Figur aus Metall baumelt am Rückspiegel und hüpft in einem Sonnenstrahl auf und ab, als das Auto über eine Bodenwelle fährt. Zwei Flügel, über dem Kopf eine Perle. Laura Siebert streicht kurz darüber und sagt: „Die werde ich noch abnehmen. Aber ich schaffe es noch nicht.“ Die Figur ist die Liebesgöttin Isis, erzählt die Bautzenerin. Für Laura Siebert, die eigentlich anders heißt, hat der Anhänger eine große Bedeutung. Er ist ein Geschenk. Eines, mit dem sie eine Zeit verbindet, die sie nicht loswird – und die sie doch von sich schieben möchte, sie am liebsten nie erlebt hätte, die sie wieder und wieder zu der Frage bringt: „Warum ich?“ Die Liebesgöttin hat ihr der Mann aus dem Urlaub mitgebracht, von dem sie einst dachte, dass sie ihn liebte. Es war das einzige Geschenk des Mannes, der der beste Freund der Familie war, und zugleich vor allem eines: Derjenige, der sie als Jugendliche missbrauchte.

Denn was Laura als Schmetterlinge im Bauch und als Verliebtheit deutete, nutzte der Mann, der 30 Jahre älter ist als sie, schamlos aus, so erzählt sie es. Noch heute, so sagt sie, sei sie noch nicht ganz losgekommen von dem Mann – er hat sie abhängig gemacht, und das über Jahre hinweg.

„Er hat mir meine Seele geklaut“, sagt Laura Siebert, als sie mit dem Auto an den Ort fährt, an dem sich vieles davon abspielte. Bei Radibor an einer Eisenbahnbrücke biegt sie in einen Feldweg ab, schaltet den Motor aus. „Hier haben wir uns immer getroffen“, erzählt sie. Kurz bleibt sie sitzen, atmet durch, steigt aus. „Ich bin zum ersten Mal wieder hier“, sagt sie.

Zum ersten Mal seit dem großen Zusammenbruch. Der Tag, der alles zum Fall brachte – das ganze Lügenkonstrukt, das über die Jahre entstanden war – und in dem sie sich so lange zurechtgefunden hatte, zurechtfinden musste. Ja, damals war es dann zu viel geworden. Es war alles aus der heute Mittdreißigerin herausgebrochen.

„Ich habe getrunken und ich wollte mir das Leben nehmen“, erzählt sie. Etwa anderthalb Jahre ist das her. Laura Siebert kam in die Klinik, nach Großschweidnitz. Erst dort erfuhr sie, dass das Verhältnis, das sie zu dem Mann hatte, nicht normal war. Dass das, was sich in der letzten Zeit in ihr abgespielt hatte, die Suizidgedanken, ein Hilfeschrei waren – und dass sie raus wollte aus ihrer Haut. Dass der Mann sie abhängig gemacht und jahrelang ausgenutzt hatte.

Noch ganz genau erinnert sie sich, wie alles anfing. Das Datum hat sich eingemeißelt in ihr Gedächtnis, sie erwähnt es immer und immer wieder. Es war ein Tag im Juli 1998. Seit einer Woche war Laura Siebert da gerade 13 Jahre alt und der Freund der Familie 43. „Ich hielt ihn für ein Idol, ein Vorbild“, sagt sie. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie noch alles vor sich. Sie erzählt: „Ich saß auf einem Stein, da hat er mich ins Haus getragen. Er hat mich ins Bett gelegt und mich geküsst.“ Weil sie da dieses Kribbeln hatte, was sie noch gar nicht einordnen konnte – so erzählt sie es heute – ließ sie es geschehen.

Hilfe in der Therapie

Immer und immer wieder trafen sich die beiden heimlich in dem Haus im Schlafzimmer der Familie, unter der Bahnbrücke, die sie an diesem Tag noch einmal besucht. Zum Geschlechtsverkehr kam es zu Beginn noch nicht, „aber alles andere schon“, beschreibt sie. Mit dem Sex wartete der Mann – bis sie 14 Jahre alt war. „Er hat nichts getan, was ich damals nicht wollte“, sagt sie, aber heute erkennt sie, dass es trotzdem nicht richtig von ihm war. Immer wieder sagte ihr der Mann: „Versprich mir, dass es niemand erfährt!“ Und Laura Siebert sagt heute: „Er war wie eine Sucht.“

Bis vor ihrem Zusammenbruch, also etwa 20 Jahre lang, lief das Verhältnis. Zweimal wurde sie schwanger und trieb das Kind auf seine Aufforderung hin ab, erzählt sie. Der Mann heiratete in dieser Zeit seine Frau, ließ Laura immer wieder warten, hielt sie hin, machte Versprechungen, vertröstete sie auf eine andere Woche – bis sie, wie sie sagt, „durchdrehte“.

Durch die Therapie erkannte sie, dass ihr Unrecht getan wurde und dass der Missbrauch ihre Suizidgedanken verursacht hatte. Sie zeigte den Mann an, doch die Taten waren bereits verjährt. „Ich möchte, dass es anderen besser geht“, sagt sie. „Ich möchte, dass andere Betroffene wissen, dass es hilft, zu reden und dass es der falsche Weg ist, alles für sich zu behalten“. Dass es sich dann aufstaut, krank macht. Deshalb will Laura Siebert, dass die Öffentlichkeit ihre Geschichte erfährt.

Bis heute hat sie es nicht geschafft, eine echte Beziehung zu führen, sagt sie. Dabei träumt sie von einer eigenen Familie. Doch sie freut sich über die kleinen Schritte. Den ersten Triumph-Zug zum Beispiel: Als sie sich das erste Mal traute, wieder durch Bautzen zu laufen, ohne Sonnenbrille und mit erhobenem Kopf.

Als sie wieder in das Auto steigt, hängt der Isis-Anhänger noch immer an dem Spiegel. Er kommt wieder mit, als sie zurückfährt. Ihn an diesem Ort lassen? Das schafft sie heute noch nicht. „Noch nicht“, sagt sie: „Aber ich bin stark geworden. Ich werde das schaffen.“

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