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Der Mann hätte gern 25 Prozent Sozialismus

Lutz Kaiser hat die Biathlon-WM mit Bauchschmerzen verfolgt, denn der Dresdner Trainer sieht ein prinzipielles Problem.

Von Alexander Hiller
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Der Mann hat genug Energie. Lutz Kaiser hat seit 1979 „keinen Sonntag zu Hause verbracht“, sagt er. Der 63-Jährige steht hier in einem Modulraum der Stadtwerke Dresden GmbH.
Der Mann hat genug Energie. Lutz Kaiser hat seit 1979 „keinen Sonntag zu Hause verbracht“, sagt er. Der 63-Jährige steht hier in einem Modulraum der Stadtwerke Dresden GmbH. ©  dpa/Sebastian Kahnert

Der Mann ist durch und durch Sportler. Skilangläufer, Rollskiläufer, Biathlet. Die WM im schwedischen Östersund hat Lutz Kaiser dennoch mit Bauchmerzen verfolgt. Der Abteilungsleiter für Ski, Rollski und Biathlon im Mehrspartenverein SG Klotzsche beklagt: „Bei uns unten in der Nachwuchsarbeit kommt von dem Geld, das derzeit im Biathlon fließt, null, also wirklich nichts an.“

Dabei ist der Mix aus Skilanglauf und Schießen seit Jahren der beliebteste TV-Wintersport der Deutschen. Bis zu sechs Millionen schalteten bei der WM den Fernseher ein, Millionen Euro fließen in die Sportart. Denise Herrmann, erfolgreichste deutsche Athletin in Östersund, strich für ihre drei Medaillen und die anderen Ergebnisse 38 500 Euro Prämien allein vom Weltverband IBU ein. Hinzu kommen die erfolgsabhängigen Vergütungen persönlicher Ausrüster und Sponsoren. Davon gibt es im Biathlon jede Menge: für Ski, Bindung, Schuhe, Stöcke, Brille, Handschuhe. Das erfolgreichste Jahr in ihrer Biathlon-Karriere wird Herrmann mit einem Jahreseinkommen im sechsstelligen Bereich abschließen.

Das findet Lutz Kaiser nicht einmal unangemessen. Ihn ärgert nur das Missverhältnis. „Wenn einer oben ist, dem muss ich nicht noch Geld geben. Obwohl, der will auch Geld haben, sonst haut er ab, in ein anderes Land“, sagt er. Deshalb wirft der streitbare und ehrenamtliche Trainer eine durchaus provokante These in den Raum. Reden kann man schließlich über alles. „Ich hätte gern 25 Prozent Sozialismus“, sagt Kaiser, schränkt aber ein: „Das System selbst möchte ich natürlich nicht zurück.“ Er war nie hauptamtlicher Trainer im DDR-System. „Ich habe das schon immer nebenbei gemacht.“

Aber selbst dabei hat er alle Seiten des Leistungssports im Arbeiter- und Bauernstaat kennengelernt – auch die guten. Und die gab es nach Kaisers Ansicht durchaus. „In den Nachwuchs wurde richtig Geld reingesteckt, wenn man erfolgreich war. Da gab es für einen Bezirksmeistertitel auch mal ein Paar Ski umsonst“, sagt er.

25 Talente nach Altenberg

Heute ist das längst nicht mehr so, obwohl mutmaßlich so viel Geld wie noch nie für die Sportart im Umlauf ist. Wie hoch diese Summe X ist, kann – oder vielmehr möchte – jedoch niemand seriös beantworten. Fest steht lediglich, dass der Deutsche Skiverband (DSV), unter dessen Dach neben Skispringen, Ski Alpin und Nordische Kombination auch Biathlon gehört, einen Jahresetat von bis zu zwei Millionen Euro angibt. Der Jahresetat der DSV Leistungssport GmbH, für Marketingeinnahmen zuständig, verfügt jährlich über 30 Millionen Euro. „Davon sehen wir unten nichts, null“, wiederholt sich Kaiser.

Frühestens im Juniorenbereich werden Deutschlands beste Talente unterstützt. Bis dato sind meistens die Eltern die treuesten und die einzigen Sponsoren. Kaiser weiß das, er hat seit der Wende etwa 25 Talente für den sächsischen Stützpunkt in Altenberg entwickelt. Gerade hat sein derzeit Bester, der 18-jährige Christoph Noack, die Gesamtwertung der AK 18/19 im Deutschlandpokal gewonnen. Das ist zuvor noch nie einem Biathleten aus der Landeshauptstadt gelungen.

Im Erzgebirge gilt er dennoch als unbequemer Geist, weil er eben auch offen seine Meinung vertritt und damit anderen auf die Füße stapft. „Ich finde, dass Sportler heutzutage generell zu zeitig an die Sportschulen gehen“, betont Kaiser etwa. In Altenberg werden die besten sächsischen Talente im Alter von elf bis zwölf Jahren zentriert. „Wenn man ein Kind in dem Alter aus dem Haus gibt, kann es am Heimweh scheitern. Das war auch schon im Sozialismus so“, argumentiert der Diplom-Ingenieur, der für die Drewag eine Abteilung für dezentrale Erzeugungsanlagen leitet. „Ich würde es besser finden, wenn die Talente erst mit 14, 15 Jahren ihren Heimatverein verlassen.“

Damit wäre das Grundproblem, das Kaiser umtreibt, jedoch noch nicht gelöst. Die deutsche Biathlon-Elite wird seiner Ansicht nach mit dem besten Material überversorgt. Und das jede Saison aufs Neue. „Die bekommen vor der Saison ein Paket, das ist so groß wie mein Schreibtisch“, sagt Kaiser und deutet auf seine knapp sechs Quadratmeter großen Büroplatte. „Da ist die komplette Einkleidung drin. Das kann man mit Geld nicht mehr aufwiegen“, findet er und zählt auf: „Drei Rennanzüge zu je 300 Euro, fünf Paar Handschuhe, ein Anorak für 1 000 Euro, eine Übergangshose für 1 000 Euro – komplette Einkleidung. Warum bekommen die das jedes Jahr? Warum bekommen die jedes Jahr neue Ski?“, fragt sich der gebürtige Dresdner, der ohnehin annimmt: „Die nutzen weitestgehend ohnehin alte Skier, weil die besser laufen.“

Eltern als Hauptsponsoren

Er selbst muss das Material für seine knapp 70-köpfige Abteilung ausschließlich selbst besorgen. Dabei sind Improvisationsvermögen und gute Beziehungen seine besten Begleiter. Mit knapp 20 000 Euro plant Kaiser die Saison für seine Sportler. Um sie jedoch optimal fördern und fordern zu können, bräuchte er ein Vielfaches. Im Winter vergeht kaum ein Wochenende, in dem nicht eine Rechnung von knapp 300 Euro auf Kaisers Tisch landet – allein für die Startgelder. „Da ist man aber noch nicht in den Schwarzwald gefahren und hat dort übernachtet, die Kosten kommen ja auch noch hinzu“, schildert er.

Es gibt Eltern, versichert Kaiser, die in Sportler bei der SG Klotzsche bis zu 800 Euro investieren – monatlich. Auf Dauer kann das nicht die Lösung sein – im Osten ohnehin nicht. „Welche alleinerziehende Mutti kann sich das denn leisten“, fragt der 63-Jährige und fordert deshalb: „Es muss unten wieder was ankommen. Die sagen ja oben schon, dass das Geld nicht reicht. Ob das stimmt, kann ich nicht einschätzen.“

Dass er überhaupt diese Unterscheidung trifft, deutet an, dass sich die Elite weit von der Basis entfernt hat. „Ändern muss sich etwas.“ Die nächste Biathlon-WM wird kommen. Ob die Problematik dann noch dieselbe ist?