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Freigeatmet: Wie sich Wachau um Matteo kümmert

Die Baldermanns waren sorgenfreie Eltern. Dann kam ihr dritter Sohn Matteo mit einem Gendefekt zur Welt. Was hat ihnen geholfen, nicht aufzugeben?

Von Daniel Krüger
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Familie Baldermann und Matteo vor dem heimischen Planschpool: "Man wächst mit seinen Aufgaben".
Familie Baldermann und Matteo vor dem heimischen Planschpool: "Man wächst mit seinen Aufgaben". © André Braun/DDV Kreation

Wachau ist eine kleine Gemeinde nördlich der Bierstadt Radeberg. Ein altes Barockschloss neben der Bushaltestelle, ein Bach, der an der Hauptstraße in einen Teich mündet und ein Kinder- und Jugendtreff mit dem Namen „Wunderland“, der eigentlich ein Bauernhof ist, auf dem sich über hundert Ehrenamtliche um Pferde, Esel und den Dorfnachwuchs kümmern. 

In Wachau hält man zusammen. Das sagen sogar die Dresdner Großstädter, nicht ohne einen Hauch Bewunderung in der Stimme. Der Ruf eilt dem Ort voraus.

"Unser Familienglück war eigentlich perfekt"

Anne Baldermann ist in Wachau aufgewachsen. Hier besuchte sie den Kindergarten, die Schule, machte eine Ausbildung zur Ergotherapeutin – und verliebte sich. Sie war 16 und kannte Tino vom örtlichen Fußballverein. 

Als er bei ihren Eltern das Dach deckte, funkte es. Kurze Zeit später zog Tino selbst in die oberste Etage des Bauernhauses, das einst Anne Baldermanns Urgroßeltern gebaut hatten. Dann ging alles ganz schnell. 2006 kam Joshua zur Welt, die Hochzeit folgte, dann Justus. Drei Generationen auf einem Grundstück, Hühner, Kaninchen, Meerschweine und Katzen.

„Unser Familienglück war eigentlich perfekt. Dann war ich wieder schwanger“. Anne Baldermann ist eine freundliche, redselige Frau mit gemütlichen Schlaghosen, einem tätowierten Unterarm und rot gefärbten Haaren, die an der Seite kurz geschoren sind. 

Sie sitzt, die Beine übereinandergeschlagen, auf einem Holzstuhl in ihrer Küche und lächelt beim Sprechen. Vom Fensterbrett blicken als Marienkäfer bemalte Steine und eine gläserne Jesus-Figur gütig auf sie herab. „Mein schwerer Start ins Leben“ steht auf dem babyblauen Foto-Buch, das vor Baldermann auf dem Küchentisch liegt.

"Wir mussten eine Entscheidung treffen"

Auf der ersten Seite mehrere Bilder eines Babys, dem Schläuche aus der Nase ragen, dutzende Kabel führen vom Körper zum Bett. „In der Mitte der Schwangerschaft haben die Ärzte gemerkt, dass mit meinem dritten Kind etwas nicht stimmt, weil ich viel zu viel Fruchtwasser hatte und Hände und Gesicht im Ultraschall seltsam aussahen.“

Es ist der 18. November 2010, die 38. Schwangerschaftswoche, bei einem künstlichen Wehentest in der Uniklinik Dresden setzt plötzlich der Herzschlag des Kindes aus. Der kleine Matteo kommt per Not-Kaiserschnitt zur Welt, 2500 Gramm schwer, 45 Zentimeter klein. Fünf lange Stunden müssen Tino und Anne Baldermann warten, bis die Nachricht der Ärzte kommt: Matteo lebt, doch er kann aufgrund eines Unterkieferproblems nicht selbstständig atmen, auch fehlen ihm an beiden Händen die Daumen.

Mehrere Versuche, die Kiefer-Fehlstellung zu beseitigen, scheitern. „Die Ärzte wussten partout nicht, was er hat und haben uns dann letztlich die Entscheidung überlassen: Ist Matteos Leben lebenswert?“

Gendefekt: So wahrscheinlich "wie ein Lottogewinn"

Eine Entscheidung, die für Anne und Tino Baldermann mangels Diagnose kaum möglich ist – und eine unvorstellbare Belastungsprobe für die junge Familie. „Justus und Joshua mussten in der Zeit wahnsinnig zurückstecken.

Zum Glück leben meine Eltern im Haus und konnten sich so gut es ging um den Alltag kümmern“, erzählt Baldermann, die in den ersten Wochen täglich zwei Mal von Wachau nach Dresden fährt, um abgepumpte Muttermilch für ihren Sohn im Krankenhaus abzugeben.

Über Facebook kommt Baldermann mit einem Arzt der Uniklinik Tübingen in Kontakt. In einer speziellen Abteilung behandeln Mediziner hier Kinder mit Problemen im Gesichtsbereich. Die Familie schöpft Hoffnung, lässt Matteo verlegen, zieht aus dem Haus in Wachau ins 700 Kilometer entfernte Tübingen, wo sie Platz in einem Geschwisterhaus finden. 

Zu viert schlafen sie in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung. „Für Justus und Joshua war Matteo bis dahin immer ein Phantom. Nun durften sie ihren kleinen Bruder zum ersten Mal sehen.“

"Warum ist Matteo so anders als wir?" Die Söhne Joshua (l.) und Justus (r.) besuchen ihren kleinen Bruder 2011 zum ersten Mal im Krankenhaus.
"Warum ist Matteo so anders als wir?" Die Söhne Joshua (l.) und Justus (r.) besuchen ihren kleinen Bruder 2011 zum ersten Mal im Krankenhaus. © Anne Baldermann/privat

Es ist eine schwere Zeit für alle, für die Söhne ist Matteos Andersartigkeit kaum greifbar. „Wenn ich alleine war, bin ich wieder in die Trauer zurückgefallen“, sagt Anne Baldermann und ihre Stimme wird lauter. Immer wieder fragt sie sich zu dieser Zeit: „Warum wir? Ich habe nicht geraucht, keinen Alkohol getrunken, auf alles geachtet.“

Doch obwohl in ihrer Familie keine Vorerkrankungen bekannt sind, leidet Matteo – so die spätere Einschätzung der Ärzte – unter anderem am sogenannte Treacher-Collins-Syndrom, einer äußerst seltenen erblichen Erkrankung, die nur eines von etwa 50.000 Neugeborenen betrifft und Missbildungen im Gesichtsbereich auslöst. Ein Lotto-Gewinn sei ähnlich wahrscheinlich, sagt mal ein Arzt zu der jungen Mutter.

Trachealkanüle: Atmen durch die Röhre

Nachdem auch eine neuartige Plattentherapie bei Matteo nicht anschlägt, entscheiden sich die Baldermanns für den einzigen Ausweg: ein Luftröhrenschnitt mit angeschlossener Kanüle soll dem kleinen Jungen das selbstständige Atmen ermöglichen.

„Die Ärzte haben immer gesagt: Damit ist kein normales Familienleben mehr möglich, weil die Kanüle Tag und Nacht abgesaugt und Matteo mit einem Monitor überwacht werden muss.“ Anne Baldermann lächelt und blättert in dem blauen Buch wenige Seiten weiter. Auf dem Foto steht die ganze Familie am Strand, im Hintergrund das Meer, im Vordergrund ein kleiner, verkabelter Junge im Kinderwagen.

Als die Baldermanns Tübingen verlassen, haben sie zwei Koffer mit medizinischen Geräten und eine Menge Entschlossenheit im Gepäckraum. „Die Leute haben uns für verrückt erklärt, aber ich wollte Matteo mit nach Hause nehmen. 

Und ich wollte keinen fremden Pflegedienst für mein Kind“, sagt Anne Baldermann. Ihre Augen beginnen zu glänzen, während sie auf das Urlaubsfoto zeigt. „Das war drei Monate nach Tübingen, da waren wir zusammen in Norwegen, das haben wir uns nach dem Stress verdient.“

"Jeder hat sein Päckchen zu tragen"

Wie es eine junge Mutter schafft, an diesen Widrigkeiten des Lebens nicht zu zerbrechen? Anne Baldermann spricht viel von Schicksal, von Gemeinschaft. „Wir haben immer an unser Kind geglaubt. Matteo war trotz seiner Leiden so fröhlich. Er wollte leben und das haben wir gemerkt“, sagt sie. 

Außerdem hätten Familie und Dorfgemeinschaft stets zu ihnen gehalten, diese Kraft habe sie und ihren Mann in dem Willen bestärkt, Matteo ein möglichst sorgenfreies Leben zu ermöglichen.

In den ersten Monaten zurück in Wachau muss Anne Baldermann alle zwanzig Minuten den Schleim aus Matteos Kanüle abpumpen. Eine lebenswichtige Maßnahme, ohne die der Erstickungstod droht. Doch mithilfe von Inhalationen schafft Matteo es immer öfter, ohne die Pumpe zu schlafen.

In einer Reha-Einrichtung im Schwarzwald lernt Anne Baldermann schließlich Eltern mit ähnlichen Schicksalen kennen. „Man fühlt sich plötzlich nicht mehr alleine und merkt, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat.“