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„Lieber Gott, lass mich sterben“

Josef Salomonovic erlebte die Hölle in mehreren Konzentrationslagern, auch in Pirna-Mockethal. Nun wird ihm ausgerechnet hier eine späte Ehre zuteil.

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© Katja Frohberg

Von Thomas Möckel

Auf die kleine Wiese neben dem Parkplatz des Gasthauses „Weiße Taube“ in Pirna scheint die Sonne. Der Wind treibt leichtes Gewölk wie Wattebäusche vor sich her, Äste eines knorrigen Baumes tanzen in seinem Gleichklang, Gras verneigt sich unter der luftigen Choreografie. Auf der nahe gelegenen Straße dröhnen Busse vorbei, drinnen sitzen von der Restwärme des scheidenden Sommers eingelullte Touristen auf dem Weg zum Elbsandstein. Es ist Mitte September, und ein Mann mit Brille, dunkler Jacke und dunkler Hose steht auf der kleinen Wiese neben einer Metalltafel. Er schaut geradeaus, sein Blick sucht irgendwo Halt in der Ferne. Unweit von ihm träumt ein Mädchen vor sich hin, sieben Jahre alt, der Wind zupft an ihrem Haar. Als der Mann es sieht, lächelt er. Der Mann ist Josef Salomonovic, jüdischer Abstammung, geboren am 1. Juli 1938 in Ostrava (Ostrau). Als er kaum älter war als das Mädchen, war er schon einmal in Pirna. 70 Jahre ist das her, und der Aufenthalt damals war Teil seiner Reise durch die Hölle.

Luftbild vom KZ-Außenlager Mockethal-Zatschke: Oben verläuft die Bahnlinie nach Lohmen, unten die Lohmener Straße, wo heute das Kaufland steht.
Luftbild vom KZ-Außenlager Mockethal-Zatschke: Oben verläuft die Bahnlinie nach Lohmen, unten die Lohmener Straße, wo heute das Kaufland steht. © Repro: K. Frohberg
Kurze unbeschwerte Zeit: Das Bild zeigt Josef mit seiner Mutter Dora 1939 in Ostrau. Wie durch ein Wunder überlebten beide mehrere Konzentrationslager.
Kurze unbeschwerte Zeit: Das Bild zeigt Josef mit seiner Mutter Dora 1939 in Ostrau. Wie durch ein Wunder überlebten beide mehrere Konzentrationslager. © Foto: privat

Im Frühjahr 1944, der Zweite Weltkrieg lag schon im Sterben, sollte der sogenannte „Geilenberg-Stab“ die deutsche Treibstoffindustrie wieder in Gang bringen. Unter Aufsicht des Wehrwirtschaftsführers Edmund Geilenberg wollte man in der Herrenleite bei Pirna von der „Deutsche Gasolin AG“ eine Schmieröl- und Destillationsanlage errichten lassen, um Sprit herzustellen. Seit August 1944 wurden unter den Decknamen Carnallit und Rogenstein Stollensysteme in den Sandstein gegraben und noch im selben Jahr in den Destillationsanlagen „Ofen 19-22“ Erdöl destilliert. Bis zum Kriegsende waren allerdings erst 20 Prozent der Anlage fertig. In der Anlage wurde Erdöl aus dem Wiener Becken verarbeitet, das per Bahn mit Kesselwagen eintraf. Reste der Gleise liegen noch heute in der Herrenleite, auch Reste der Fundamente für die Mineralöltanks sind noch zu finden.

Weinen war nicht erlaubt

Die unbeschwerte Kindheit von Josef Salomonovic endete mit drei Jahren. 1941 wurde die jüdische Familie – sein Vater, seine Mutter Dora und sein Bruder Michael – zu einer Sammelstelle im Prager Messegelände beordert. Von da aus starteten die Transporte in die Konzentrationslager. Jeder durfte 20 Kilo Gepäck mitnehmen. Josef trug einen Rucksack, darin waren Nachttopf und Klopapier. Zwischen dem Klopapier hatte der Vater Geld versteckt. „Er hat gesagt, wir fahren zu einem Ausflug nach Polen“, sagt Josef Salomonovic. Es war für lange Zeit das letzte Mal, dass die Familie mit einem normalen Personenzug fuhr. Nach einem Tag Fahrt trafen sie im Ghetto Litzmannstadt im polnischen Lodz ein. Hier selektierten die Nationalsozialisten, wer nach Auschwitz kam. Weil Eltern und Bruder im Ghetto Zwangsarbeit leisten mussten, zwölf Stunden täglich, war der kleine Josef oft allein. Er vertrieb sich die Zeit mit gleichaltrigen Spielkameraden, doch auch diese Zeit endete jäh. Weil die Nationalsozialisten eine vorgegebene Auschwitz-Quote erfüllen mussten, füllten sie eine Zeit lang die Transporte ins Vernichtungslager mit eilig ihren Eltern entrissenen Kindern auf. Von einer Mittelohrentzündung geplagt, versteckten die Eltern Josef auf einem kleinen engen Dachboden. Obwohl die Schmerzen unerträglich waren, durfte er weder schreien noch weinen, noch nicht einmal wimmern. Doch es gelang nicht, dem Grauen zu entkommen.

Weil es in Kriegszeiten an zivilen Arbeitskräften mangelte, wurden hauptsächlich Zwangsarbeiter rekrutiert, die die Destillationsanlagen in der Herrenleite errichten sollten. Um die Arbeitskräfte vor Ort zu haben, bestand vom 10. Januar bis Mitte April 1945 im Pirnaer Stadtteil Mockethal-Zatschke ein Außenlager des bayrischen Konzentrationslagers Flossenbürg. Ähnliche Außenlager gab es in Königstein und in Porschdorf. Bislang ist unklar, wie viele Baracken im Lager Mockethal-Zatschke standen, die Rede ist von vier bis fünf. Das Lager soll mit Stacheldraht umgeben gewesen sein, Wachtürme fehlten. Bewacht wurde das Lager von Kommandoführer und SS-Oberscharführer Erich von Berg und weiteren SS-Schergen. Spätere Ermittlungen gegen von Berg stellte die Staatsanwaltschaft Würzburg 1979 wegen Verjährung ein.

Mockethal als Auffanglager für mehrere Hundert Häftlinge

Nach zweieinhalb Jahren im Ghetto Litzmannstadt fand sich Familie Salomonovic unvermittelt in Auschwitz wieder. Die Familie wurde getrennt, aufgrund einiger Wirren kamen Josef und Michael in das Frauenlager und wurden dort als Josefa und Michaela geführt. Originalunterlagen, die Josef Salomonovic viele Jahrzehnte später in den USA einsieht, belegen den Irrtum. Einer KZ-Aufseherin verdankt es Josef, dass er seinen Wintermantel und seine Prager Schuhe behalten darf. Am Beginn der KZ-Odyssee ist sein Mantel weiß, danach dunkelgrau. Josef trug die Häftlingsnummer 59861. Von Auschwitz wurde die Familie wenig später in KZ Stutthof bei Danzig deportiert, wo der Vater ermordet wurde.

Im Pirnaer Lager waren zunächst etwa 100 Häftlinge interniert, vor allem Handwerker. Sie kamen überwiegend aus Russland, Italien und weiteren neun Nationen. Sie sollten offenbar ein großes Lager für etwa 2 000 Menschen aufbauen, damit genügend Zwangsarbeiter zur Verfügung stehen. Nach den Luftangriffen auf Dresden im Februar 1945 diente Mockethal als Auffanglager für mehrere Hundert Häftlinge aus den dortigen KZ-Außenlagern. Die Männer mussten für die Treibstoffanlagen schuften.

Josef Salomonovic, seine Mutter und sein Bruder kamen im November von Stutthof ins KZ-Außenlager Bernsdorf an der Schandauer Straße in Dresden. Nach den Luftangriffen mussten sie die 19 Kilometer nach Mockethal zu Fuß gehen – in das KZ-Außenlager mit dem Tarnnamen „Dachs VII“. Josef kann sich noch an den provisorischen Zustand und die miesen hygienischen Bedingungen erinnern. Laut anderen Berichten mussten die meisten Häftlinge auf dem Fußboden schlafen, die jüdischen Häftlinge hatten noch nicht einmal eine Decke. Von Mockethal ging es nach einigen Tagen wieder zurück nach Dresden. Die Häftlinge mussten die Toten aus den einsturzgefährdeten Häusern bergen. Josef erinnert sich an die vielen „schönen“ Toten, die Haare und teils noch schicke Kleidung trugen. Aus den Lagern kannte er nur hässliche Tote, enthaart und in schäbigen Häftlingskleidern.

Schlafen in der Kiste

Am 13. April 1945 sind in Mockethal 131 Häftlinge registriert. Drei Tage später werden sie in das größere Flossenbürger Außenlager im böhmischen Leitmeritz getrieben. In den Nummernbüchern sind 13 Tote in Mockethal registriert, Zeugen sprechen aber von mindestens 53 Toten. 13 Tote aus dem Lager wurden später im Pirnaer Friedenspark bestattet. 47 weitere Opfer sollen in Lohmen begraben sein.

Die Dresdner Häftlinge, darunter Josef Salomonovic, werden kurz vor Kriegsende auf einen Todesmarsch in Richtung Erzgebirge geschickt. Nach fünf Tagen Marsch kamen sie in ein Lager. Josef hatte zu der Zeit viele Furunkel an Bauch und Rücken, er konnte nicht lange auf einer Seite liegen. Jedes Mal, wenn er sich umdrehte, schrie er vor Schmerzen. Die Frauen im Schlafraum hielten die Schreie nicht aus, vor dem Haus stopften sie eine Kiste mit Holzwolle aus, dort hinein musste sich der Junge schlafen legen. In der Kiste sprach Josef das letzte Mal mit Gott. „Lieber Gott, bitte lass mich sterben“, flehte er. Auf dem Marsch gab es so manchen Tag nur rohe Kartoffeln. Josef konnte sie nur gerieben essen, wegen der Mangelernährung waren dem Jungen beinahe alle Zähne ausgefallen. In seinem Mantel trug er aber noch einen kleinen Löffel aus Auschwitz – den er heute noch besitzt – bei sich, mit dem seine Mutter die rohen Kartoffeln reiben konnte. Irgendwo auf dem Marsch gelang der Familie die Flucht. Josef wohnt heute in Wien, sein Bruder in Ostrau.

Dem Nichtvergessen widmen

Nun, 70 Jahre nach Kriegsende, wird Josef Salomonovic eine späte Ehre zuteil. In Pirna erinnert jetzt eine Gedenktafel an das einstige KZ-Außenlager. Ein Luftbild vom Lager ist darauf zu sehen, dazu gibt es viele historische Fakten, die der Verein „Alternatives Kultur- und Bildungszentrum“ (Akubiz) recherchiert hat. Pirnas Oberbürgermeister Klaus-Peter Hanke sieht in der Tafel einen wichtigen Baustein zur Gedenkarbeit in der Region Pirna. Und viele andere haben dazu beigetragen, dass die Tafel überhaupt in Pirna stehen kann. Eine Gruppe um die frühere Stadträtin Christine Anger hält engen Kontakt zur Gedenkstätte in Flossenbürg, das Maximilian-Kolbe-Werk aus Freiburg ermöglichte den Aufenthalt von Josef Salomonovic in Pirna. Salomonovic selbst fällt es auch nach all den Jahren noch sehr schwer, nach Pirna zu reisen. „Aber ich beiße mich da durch“, sagt er. Er möchte sich dem Nichtvergessen widmen, er möchte, dass junge Menschen seine Geschichte hören. Bei seinen Pirna-Aufenthalten geht er regelmäßig in Schulklassen und erzählt von dem Unvorstellbaren, dass seine frühe Kindheit prägte. Dennoch ist Josef Salomonovic 70 Jahre nach Kriegsende durchaus zum Scherzen aufgelegt. Sofern es ihm weiterhin gut gehe, wolle er im kommenden Jahr wieder nach Pirna kommen. Dann möchte er mit älteren Schülern die 19 Kilometer zu Fuß zur Schandauer Straße in Dresden laufen, damit sie ein Gefühl haben, wie sich so ein Marsch anfühlt. „Aber für den Rückweg“, sagt er lachend an Hanke gerichtet, „bestellen Sie bitte einen Bus.“