Da schlägt das Herz unwillkürlich schneller. Wer Plastiken von Ernst Heinrich Barlach gegenübertritt, der ist überwältigt: so virtuos reduziert und berührend sind sie gestaltet. Fehldeutungen der inneren Vorgänge dieser Figuren sind unmöglich. Der fröhliche „Singende Mann“ tut es, ebenso wie das bitter „Frierende Mädchen“, auch der Hunger des „Bettlers“ und das innige Gebet des Mönches rühren in ihrer Menschlichkeit sofort. Es ist moderne Kunst, die zeitlos versöhnt und tröstet. Und doch bleibt immer ein Geheimnis.
So geht es dem, der die Sonderschau der Staatlichen Kunstsammlungen im Dresdner Albertinum besucht. Anlass ist der 150. Geburtstag des multimedial arbeitenden Künstlers. Es ist die erste Retrospektive dieser Art in der Stadt, ein chronologischer Rundgang durch Leben und Werk.
Beginnend mit einem „Brutus“-Kopfporträt nach Michelangelo, wie er dem jungen Mann an Hamburgs Kunstgewerbeschule als Vorlage diente, werden die Dresdner Studienzeit von 1891 bis 1894, Barlachs Verfemung in der Nazi-Zeit – trotz Andienungsversuch – und die verehrende Rezeption in beiden deutschen Staaten beleuchtet. Dank dieser Konzeption und opulenten 230 Exponaten – darunter Plastiken, Zeichnungen, Skizzenbücher, Drucke und literarische Werke – gelingt ein frischer Blick auf den vermeintlich bekannten Klassiker.
Mild-konservative Formensprache
Herzstück sind 30 Holzskulpturen. Barlach, der auch keramisch und als Medailleur tätig war, betrachtete sich zuallererst als Holzbildhauer. Zu Recht: „Die Hölzer zeigen den gewaltigen Unterschied an Biss und Präsenz, gegenüber den populären, später teils massenhaft gegossenen Bronzeplastiken“, sagt Karsten Müller vom Hauptleihgeber Barlach Haus Hamburg,
Erstmals im Fokus ist das Studium in Dresden als Meisterschüler des stadtbildprägenden Bildhauers Robert Diez. Es erweist sich als akademisches Sprungbrett. Das Durchlaufen der klassischen Ausbildung schärfte den Blick für die markante, mild-konservative Formensprache, zu der Barlach nach einer Russlandreise 1906 fand und ab 1908 genial in Holz umsetzte.
Wer von dieser Schau angefixt mehr von dem Expressionisten erfahren will, dem sei eine editorische Großleistung des Suhrkamp-Verlags empfohlen. 2.215 Briefe wurden neu aus den Originalen transkribiert und mit Kommentaren versehen, gar 395 erstmals veröffentlicht. Das Fazit: Der Briefschreiber war selbstbewusster Künstler und alleinerziehender Vater, war scharfsinniger Beobachter seiner Zeit und gefiel sich als einsamkeitssüchtiger Einsiedler. Er wird kenntlich als Mensch mit Emotionen.
Dennoch gibt es Unerklärbares. Rund 100 „Hölzer“ hat Barlach geschaffen, Eiche, Nussbaum bis Mahagoni genutzt. Dennoch wirken „Rächer“ oder „Asket“ auf den ersten Blick wie Bronzen – wegen des lasurartigen Überzugs. Der bleibt, so Müller, nach bisheriger Analysen „eher rätselhaft“.
- Ausstellung: Albertinum Dresden, bis 10. Januar, täglich außer montags, 11 – 17 Uhr, freitags bis 20 Uhr.
- Barlach-Briefe: Kritische Ausgabe in vier Bänden. Suhrkamp, Gebunden, 2.986 Seiten, 98 €