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Otto Mellies - Ganz anders als alle

Er war der Grandseigneur des Theaters, spielte im vorigen Jahr noch im „Tatort“ und gab vielen Filmen seine Stimme. Jetzt starb Otto Mellies mit 89 Jahren.

Von Karin Großmann
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„Ein altes Theaterpferd muss marschieren“, meinte Otto Mellies und arbeitete bis zuletzt.
„Ein altes Theaterpferd muss marschieren“, meinte Otto Mellies und arbeitete bis zuletzt. © dpa

Diese Stimme ist unter hundert anderen zu erkennen. Dunkel, samtig, unaufgeregt. So nahm Otto Mellies fast bis zuletzt Hörbücher auf, die Geschichten von Michael Ende, die Lebensweisheiten des Kleinen Prinzen oder die Märchen vom Rübezahl. Fast bis zuletzt trat er auch noch in Filmen auf. In einem Berliner „Tatort“ zum Beispiel stattete er einen Juristen mit größter Akkuratesse und einem tiefen Gerechtigkeitsgefühl aus. Seine lebenslange Liebe aber galt dem Theater. Sechzig Jahre lang spielte er Helden, Beamte und Bösewichter. Und wenn er doch mal eine Rolle erwischte, die ihm nicht so lag, wie der Edelmann in Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“, dann gestaltete er auch die über siebzigmal auf der Bühne tadellos gemäß seinem Motto: „Ein altes Theaterpferd muss marschieren.“ Sich selbst hielt er nicht für wichtig. Aber er freute sich, wenn Kollegen bewundernd sagten: „Mensch, Ottsch …“

Am Sonntag ist der wunderbare Schauspieler im Alter von 89 Jahren gestorben. Otto Mellies, geboren 1931 als jüngstes von acht Geschwistern in Schlawe, im heute polnischen Slawno, verbrachte einen Teil seiner Jugend in Stolp und kam nach dem Krieg zu seiner älteren Schwester nach Schwerin. Als 16-Jähriger bestand er die Aufnahmeprüfung an der dortigen Schauspielschule. „Gott, ist das Bübchen süß“, soll die Chefin gejuchzt haben, als er in Seppelhose seinen Text aus „Kabale und Liebe“ sprach. 

Otto Mellies im Jahr 2011.
Otto Mellies im Jahr 2011. © dpa

Seine erste Bühnenrolle war der Schüler in Goethes „Faust“. Mellies spielte in Neustrelitz, Stralsund und Rostock und lernte beim Anstehen nach Lebensmittelkarten seine Frau Luise kennen. Sie wurde später Opernsängerin und seine beste Texttrainerin. Sie bekamen zwei Kinder. Die Ehe hielt gut sechzig Jahre. Das Rezept? „Turbulenzen“, sagte Mellies im SZ-Gespräch vor einigen Jahren in seinem Haus in Berlin-Bohnsdorf. „Es war bei uns nie langweilig. Es ging rauf und runter, mit Riesenkrächen und Riesenversöhnungen.“

Intendant Wolfgang Langhoff holte Otto Mellies 1956 nach Berlin an das Deutsche Theater. Dort war er fünf Jahrzehnte lang engagiert, als Gast bis 2009. Er spielte alles, was auf die Bretter kam, die Klassiker von Goethe, Schiller, Kleist genauso wie die zeitgenössischen Stücke von Peter Hacks oder Benito Wogatzki. „Es gibt richtig schlimme Wurzen-Rollen, mit hier einem Sätzelchen und dort einem, und dafür hockt man dann drei Stunden im Theater“, so Mellies.

Viele solche Rollen hat er wohl nicht gehabt. Vor allem eine versöhnte ihn mit den Untiefen des Theaterbetriebes. Diese Figur, sagte sein Regisseur Friedo Solter, müsse er anders spielen als alle Schauspieler vor ihm. Das tat Mellies dann 325-mal. So oft stand er im Deutschen Theater auf der Bühne als Nathan der Weise. „Ich bin mit großem Bammel auf die Proben gegangen“, erinnerte sich Otto Mellies, „bis ich merkte: Nathan ist nicht weise. Er denkt vernünftig. Und er wird vom Regen nass wie jeder andere Mensch.“ Die Premiere war 1987, und die Inszenierung passte auch dann noch in die Zeit, als in Rostock-Lichtenhagen und Mölln die Asylantenheime brannten. Mellies spielte den Juden Nathan besonnen, ängstlich, gewieft und voller Abscheu vor jedem religiösen Fanatismus. „Ein Mensch stand auf der Bühne, kein unerreichbarer Held“, so ein Kritiker.

Mellies hat sich immer als politischen Schauspieler gesehen. „Ich könnte gar nicht anders leben. Ich muss doch wissen, wie die Weichen gestellt sind, wer wo was sagt und beschließt. Wer behauptet, sich nicht für Politik zu interessieren, lügt – wie jene Schauspieler, die behaupten, keine Kritiken zu lesen.“ Seine politische Paraderolle war die des karrierebesessenen Chemikers Dr. Martin Schlüter im Mehrteiler des DDR-Fernsehens 1965. 

Die Einschaltquote lag bei achtzig Prozent, Millionen Zuschauer verfolgten die Auseinandersetzung um Macht und Missbrauch, Verrat und Gewissen. „Es war wirklich ein Riesenerfolg“, erinnerte sich Otto Mellies. Er erzählte, dass ihn sogar ein Autogrammwunsch aus Wladiwostock erreichte, obwohl an seinem Holzbriefkasten gar kein Name stand. Der Brief war adressiert an „Dr. Schlüter, Deutschland“. Der Film war der Durchbruch. Danach war der Schauspieler jedes Jahr in mindestens einem Kino- oder Fernsehfilm besetzt.

Anders als viele seiner Kollegen erlebte der Schauspieler den Wendeherbst 1989 nicht als Bruch. Im Theater wie im Film ging es für ihn fast nahtlos weiter. So kam zum Nationalpreis der DDR der Deutsche Filmpreis hinzu, 2012 für eine Rolle in Andreas Dresens Film „Halt auf freier Strecke“. Und er lieh Hollywoodstars wie Paul Newman, Donald Sutherland, Sean Connery und Christopher Lee seine begnadete Stimme als Synchronsprecher. 

Aber nicht nur die Stimme machte Otto Mellies zu jenem Ausnahmekünstler, der in Erinnerung bleibt. Eine unerhörte Professionalität kommt hinzu, die Eleganz, die Wandelbarkeit. Was bleibt, ist die Autobiografie mit dem Titel „An einem schönen Sommermorgen“ und einem Schatz voller Anekdoten. Als Kind, erzählt Mellies, bekam er jedes Weihnachten dasselbe Holzpferdchen geschenkt, nur immer neu aufgehübscht. „Theater ist die Mutter des Ganzen.“