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Per Zufall den toten Großvater entdeckt

Irina Altstädter schlendert durch die aktuelle Fotoausstellung im Dresdner Schloss, als sie an einem Foto aus dem Jahr 1977 hängenbleibt.

Von Birgit Grimm
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Irina (46) und Marc (12) Altstädter genießen die Herbstferien in Dresden. Dass sie im Dresdner Kupferstich-Kabinett ihrem 1986 verstorbenen Großvater und Urgroßvater aus Rumänien begegnet sind, macht diesen Urlaub für sie unvergesslich.
Irina (46) und Marc (12) Altstädter genießen die Herbstferien in Dresden. Dass sie im Dresdner Kupferstich-Kabinett ihrem 1986 verstorbenen Großvater und Urgroßvater aus Rumänien begegnet sind, macht diesen Urlaub für sie unvergesslich. © Christian Juppe

Sie hatten den Tag im Dresdner Schloss verbracht, sind durch fast alle Ausstellungsräume gewandert und waren schon reichlich erschöpft. Beinahe wäre Familie Altstädter doch nicht mehr ins Kupferstich-Kabinett hinaufgestiegen. „Wir haben erst mal eine Pause gemacht und uns dann doch noch aufgerafft und irgendwie nach oben geschleppt“, erzählt Irina Altstädter. 

Von Christian Borchert hatte sie noch nie gehört, kannte den Dokumentaristen des DDR-Alltags nicht und wurde doch sofort von dieser Sonderschau in den Bann gezogen. Eine Wand gleich zu Beginn zeigt Fotos, die Borchert 1977 in Rumänien aufnahm. Irina und ihr Mann Wilhelm stammen aus Rumänien, sie ist Ungarin, er Siebenbürger Sachse. Große Überraschung, ungläubiges Staunen vor dem letzten Bild in der Reihe: Ein Mann sitzt auf einem Markt auf dem Tisch. Er baumelt mit den Beinen und blickt entspannt in die Kamera. Seine Waren, es sind Körbe, liegen auf dem Tisch neben ihm. Irina ist wie vom Donner gerührt und traut ihren Augen kaum: „Das ist mein Großvater!“, ruft sie.

Christian Borchert fotografierte 1977 auf dem Markt im rumänischen Sibiu/Hermannstadt diesen Händler. Sein Name: Domokos Szikszai.
Christian Borchert fotografierte 1977 auf dem Markt im rumänischen Sibiu/Hermannstadt diesen Händler. Sein Name: Domokos Szikszai. © Slub/Deutsche Fotothek

Die Direktorin des Kupferstich-Kabinetts, Stephanie Buck, hat gerade nebenan im Studiensaal zu tun und wird herzugeholt. Auch Bertram Kaschek, der Kurator der Schau, ist im Haus, als die Familienzusammenführung publik wird. Irina Altstädter hat sich nicht geirrt, obwohl sie 1977 erst drei Jahre war. „So jung habe ich meinen Großvater nicht in Erinnerung“, sagt sie. „Als er 1986 starb, war ich so alt wie mein Sohn heute.“ 

Marc steht daneben und staunt, sein Papa schweigt ergriffen und wundert sich. Irina Altstädter hat Tränen in den Augen. Die Museumsleute freuen sich nicht nur über diese überraschende Begegnung, sondern auch darüber, dass Irina Altstädter ihnen erzählt, dass dieser Markt immer noch in Sibiu/Hermannstadt stattfindet und es heute dort noch ganz ähnlich aussieht wie auf dem Foto: die Betontische, das Dach, alles noch da. Es ist relativ leer auf dem Foto, keine Touristen, keine Kunden. „Wahrscheinlich wurde das Foto am Morgen aufgenommen, als der Opa seinen Stand gerade aufbaut“, vermutet Irina Altstädter. „Jedenfalls sieht er total entspannt aus.“

Ihre Erinnerungen an den Opa, Domokos Szikszai hieß er, sind nicht ganz so entspannt. „Er war ein schwieriger Typ. Nach seinem ersten Schlaganfall hat er mühsam wieder gehen und sprechen gelernt. Mit uns Kindern hat er oft geschimpft, weil wir ihn nicht verstanden und immer gefragt haben: Was hast du gesagt, Opa? Wenn er die Geduld verlor, haben wir das Weite gesucht, und die Oma hat alles ausgebügelt.“

Die Stadt Sibiu (Hermannstadt) heute.
Die Stadt Sibiu (Hermannstadt) heute. © Pixabay/falco

Domokos Szikszai war quasi immer auf dem Markt, das war sein Leben. In Mezöfele, dem Dorf, in dem die Familie lebte, hat das Körbeflechten eine lange Tradition. Im Frühsommer fahren die Männer ins Donaudelta und schneiden Schilf, das dann erst einmal trocknen muss. Im Winter, wenn es auf den Feldern nichts zu tun gibt, treffen sich die Frauen, um gemeinsam Körbe und Taschen, Untersetzer und Platzsets oder Hüte zu flechten und mit dem sehr feinen Inneren der Schilfstängel Gläser und Flaschen zu ummanteln.

Männer wie Domokos Szikszai kaufen die Waren bei den Familien ein und bringen sie zum Markt, wo sie so lange bleiben, bis sie Nachschub brauchen oder der Winter kommt und es zu kalt wird. Irinas Opa ist auf dem Markt gestorben. Ihre Oma hatte schon vorher erfahren, dass es ihm nicht gut gehe, er schlecht ausgesehen habe. „Sie hat ihn gebeten, nach Hause zu kommen, es war schon November und sehr kalt. Aber er wollte noch bleiben. Deshalb hat sie meinen Vater losgeschickt, ihn zu holen. Doch er kam zu spät, der Opa lag tot in seinem Zimmer. Es heißt, er sei im Schlaf gestorben“, erzählt Frau Altstädter.

Das Geflochtene auf den Markt zu bringen ist in Mezöfele, das auf Rumänisch Ceasu de Cimpie heißt, Männersache wie anderswo Angeln oder Jagen. „Mein Opa hat uns einmal mitgenommen im Sommer auf den Markt, damit wir verstehen, warum er ständig unterwegs ist. Meinem Vater, er war Eisenbahner von Beruf, hat es sehr gefallen auf dem Markt: das bunte Treiben, die vielen Menschen. Und als er Rentner wurde, hat er den Platz des Opas auf dem Markt eingenommen.“

Irinas Mann Wilhelm verließ wie so viele Deutschstämmige Anfang der 1990er-Jahre Rumänien und ging nach Deutschland. Seine Frau folgte ihm 1993. Die Familie lebt in München, Irina arbeitet in der Verwaltung des Uniklinikums, Wilhelm ist Versicherungskaufmann. 

Marc will vielleicht einmal Architekt werden, aber genau weiß er das noch nicht. Ungarisch spricht er fließend. Er besucht seine Großeltern in den Ferien gern. Rumänisch kann er nicht. Seine Mutter sagt verschmitzt: „Rumänisch ist unsere Geheimsprache, wenn Marc nicht mitbekommen soll, was ich mit meinem Mann berede.“ Marc schmunzelt. Vielleicht versteht er doch ein wenig Rumänisch oder er weiß ganz einfach, dass die Geheimnisse seiner Eltern für ihn nicht von Nachteil sind.

Nur Zufall oder Schicksal?

Mit ihnen durch Dresdens Museen zu ziehen, findet er offenbar nicht langweilig. „Eigentlich dachte ich, wir fahren nach Wien“, sagt er. Seine Mutter hätte ihm gern Budapest gezeigt in diesem Herbst. „Aber ich bin mit Orbans Europapolitik nicht einverstanden, also kriegen sie in Ungarn keine Euros von mir als Touristin“, sagt sie unverblümt. 

Die Familie macht oft im Ausland Urlaub, nun entdeckt sie Deutschland. „Meine Mutter meinte begeistert, dass es in Dresden so viel zu sehen gibt. Sie war zu DDR-Zeiten hier“, sagt Irina Altstädter. Aber dass sie sich gerade in diesem Herbst für Dresden entschieden und ausgerechnet in die Borchert-Ausstellung gingen! „Ist das nur Zufall oder schon Schicksal?“, fragt Frau Altstädter gerührt.

Die Verwandtschaft in Rumänien wurde unverzüglich über die Entdeckung des Großvaters informiert. „Meine Eltern haben kein Smartphone, also habe ich das Bild an meine Cousine geschickt. Sie hat es ihnen gezeigt und gesagt: ,Der Opa sieht ja aus wie unser Cousin!‘ Ich habe ihr widersprochen: Falsch! Unser Cousin sieht aus wie der Opa!“