SZ +
Merken

Das Dilemma im Pflegeheim

Die Eigenanteile sind für Pflegebedürftige deutlich gestiegen. Ein Fall in Dresden zeigt, wie schnell es deshalb Ärger gibt. Dabei sind sich doch Angehörige und Heimleitung einig: in ihrer Ohnmacht.

 11 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Dietmar Daßinnies besucht seine Mutter Gisela im Pflegeheim. Die Kosten dort steigen immer weiter.
Dietmar Daßinnies besucht seine Mutter Gisela im Pflegeheim. Die Kosten dort steigen immer weiter. © Ulrich Wolf

Sein Kopf lehnt an der kalten Scheibe. Gedankenverloren schaut Dietmar Daßinnies hinaus. Im Dunkeln eines späten Januar-Nachmittags huschen die beleuchteten Haltestellen der Straßenbahnlinie 2 vorüber: Postplatz, Bahnhof-Mitte, Amalie-Dietrich-Platz. Am Merianplatz im Dresdner Plattenbauviertel Gorbitz steigt er aus, passiert das Spaßbad „Elbamare“, dann steht der 61-Jährige vor der Wand eines großen Plattenbaus. Ganz oben prangt ein Motto: „Füreinander – Miteinander“.

Der Plattenbau ist eines von zwei Pflegeheimen, die die gemeinnützig wirtschaftende Volkssolidarität in Dresden betreibt. 204 Plätze in sechs Wohnbereichen. 192 Einzelzimmer, sechs Ehepaar-Appartements. Seit März 2010 hat Dietmar Daßinnies hier seine Mutter Gisela untergebracht. 88 Jahre alt, vor dem Heim wohnte sie allein zur Miete in Barby an der Elbe in Sachsen-Anhalt, geschieden, alleinstehend. Irgendwann ging es nicht mehr, der Sohn holte sie nach Dresden, damals noch mit Pflegestufe zwei. Mittlerweile ist die Mutter dement, zuckerkrank, inkontinent, bettlägerig. Sie hat – wie 40 weitere alte Menschen in dem Heim – den Pflegegrad fünf.

Die Schiebetüren der Luftschleuse öffnen sich automatisch. Das Foyer in den Farben Orange und Grün wirkt hell und freundlich. Die Demenzabteilung ist im siebten Stock. Hinauf geht es mit dem Aufzug. Frau Daßinnies liegt gleich vorn links. 20 Quadratmeter für die letzten Lebensjahre. Laminatboden. Im Bad steht einsam der Rollator unter der Dusche. Ihr Rollstuhl ist vor die Heizung geschoben. Das Kopfteil ihres elektrischen Pflegebettes ist hochgefahren, auf dem schwenkbaren Nachttischtablett stehen zwei Schnabeltassen. Im Fernsehen läuft Toggo, der Kinderkanal von Super-RTL. Kater Tom jagt Jerry, die Maus. Auf einem zweiten Nachttisch liegt ein Bilderbuch mit dem Titel „Bauernhoftiere“.

„Mein Sohn“, sagt Gisela Daßinnies. „Mein lieber Sohn, der Christian.“

„Aber der Christian lebt doch nicht mehr, ich bin’s, der Dietmar“, sagt ihr Sohn. Er gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Sein älterer Bruder sei schon vor Jahren gestorben, erklärt er fast entschuldigend. „Ein Unfall. Das hat Mutter nicht verkraftet, sie verwechselt mich ab und zu mit ihm.“

Wunsch nach Zweitgutachten

Man traut sich gar nicht, Frau Daßinnies die Hand zu drücken, so zerbrechlich wirkt sie. Aus ihrer Wohnung in Barby sind nur eine Kommode und das dunkelbraune Wohnzimmerbuffet geblieben. Fotos stehen darauf: von ihrem Vater, ihren zwei Söhnen, den vier Enkeln und fünf Urenkeln. Und zwei Stofftiere: ein Bär und ein Tiger. „Sind die nicht hübsch? Die schau’n ganz lieb.“ Dietmar Daßinnies reicht ihr eine der Schnabeltassen. „Du musst trinken“, sagt er. „Das ist wichtig.“ Seine Mutter nimmt einen Schluck. „Schmeckt nicht“, sagt sie. „Der Geschmack ist mager.“ Im Fach unter der Garderobe stehen Windelpackungen und drei Dosen Verdickungsmittel. Frau Daßinnies singt: „Faleri, Falero, ich lauf‘ davon und tret‘ dir in den Po.“ Sie lacht. Dann wechselt sie zu „Die Gedanken sind frei“, der Text der ersten zwei Strophen kommt fehlerfrei daher.

Derweil sucht ihr Sohn das Gebiss der alten Frau, er findet es erst nach einigen Minuten, ganz unten im Buffet zwischen den weggeräumten Weihnachtssachen. An der Garderobe liegt der Mobilisationsplan für Frau Daßinnies: am 21. Januar zweimal gedreht, am 22. Januar hingegen achtmal. Zwischen Bett und Tür ist ein grüner Schalter. Dietmar Daßinnies behauptet, den müssten die Pflegekräfte bei jedem Betreten und Verlassen des Zimmers drücken. „Ich habe noch nie gesehen, dass das passiert.“ Eine Erfassung der Zimmerkontrolle sei somit nicht möglich.

Daßinnies hat eine Generalvollmacht von seiner Mutter. Er entscheidet für sie, in allen Bereichen. Er sagt, bis Anfang vorigen Jahres sei er mit der Pflege zufrieden gewesen. Nun aber müsse er aufzeigen, wie schändlich unsere Gesellschaft mit den Alten umgehe. „Meine Frau und ich kriegen immer gesagt, mit Mutter sei alles okay. Das glaube ich nicht.“ Er erzählt, wie seine Mutter im Februar 2018 wegen einer Gürtelrose ins Krankenhaus gebracht worden sei, „ohne Sachen und damals noch mit Pflegegrad vier“. Danach sei sie kaum noch umhergelaufen, habe im Rollstuhl, meist aber im Bett gelegen. Im April habe die Mutter dann einen Zuckerschock gehabt, der Notarzt habe kommen müssen, „ich aber wurde nicht einmal angerufen“. Ende Mai sei sie dann in den Pflegegrad fünf eingestuft worden.

Für Daßinnies, der angestellt ist im öffentlichen Dienst, steht fest: „Das System hat die Mutter zum Liegen gebracht!“ Er behauptet, die Heimleitung verweigere ihm die Herausgabe der vollständigen Pflegedokumentation. „Ich durfte lediglich den Medikamentenplan vom Computerbildschirm abfotografieren.“ Man habe ihm angeboten, sich um einen neuen Heimplatz zu bemühen und den Umzug zu übernehmen, wenn er mit der Situation nicht einverstanden wäre. „Das ist für mich aber keine Lösung zur Aufdeckung der Unzulänglichkeiten in der Pflege.“ Seinen Wunsch, ein Zweitgutachten zur medizinischen Betreuung machen zu lassen, sei ebenfalls abgelehnt worden. „Mutters Hausärztin hat stattdessen mit einem Betreuungsstopp gedroht.“

„Wohnen in Geborgenheit“ verspricht die Tafel am Pflegeheim der Volkssolidarität in Dresden-Gorbitz.
„Wohnen in Geborgenheit“ verspricht die Tafel am Pflegeheim der Volkssolidarität in Dresden-Gorbitz. © Ronald Bonß

„Mutters Hausärztin“, das ist Dr. Swantje Gröbner. Die Allgemeinärztin leitet das medizinisch-therapeutische Versorgungszentrum im Gorbitz-Center. Schon 2016 betreute das Zentrum 65 Patienten des Pflegeheims. Wie viele es derzeit sind, wird mit dem Verweis auf das Betriebsgeheimnis verschwiegen. Ansonsten weist die Ärztin die Vorwürfe von Dietmar Daßinnies zurück. Die Herausgabe der Behandlungsunterlagen an einen anderen Arzt nach Entbindung der Schweigepflicht habe sie nicht verweigert, teilt sie auf Anfrage mit. Und: „Ich habe niemandem gedroht, sondern die Angehörigen von meinem Recht auf Beendigung des Arzt-Patienten-Verhältnisses bei gestörtem Vertrauensverhältnis in Kenntnis gesetzt.“

Am ersten Tag nach Neujahr hatte Daßinnies einen Brief erhalten von der Volkssolidarität. In der Betreffzeile stand: „Ergebnis der Pflegesatzverhandlung und Neufestlegung des Heimentgeltes ab 01.01.2019 für das Pflegeheim Gorbitz“. Darin wird genau aufgelistet, was wie viel kostet:

Pflegekosten pro Monat bei Pflegegrad fünf: 2 476 €. Kassenzuzahlung: 2 005 €. Das ergibt einen Eigenanteil pro Bewohner von 471 € im Monat – ein Anstieg im Vergleich zu 2018 von rund 13 Prozent.

Monatliche Unterkunftskosten: 431 € – ein Plus von 3,4 Prozent.

Monatliche Verpflegungskosten: 148 € – ein Anstieg von 5,7 Prozent.

Monatliche Investitionskosten: 183 € – unverändert.

Monatliche Umlage für Auszubildende: 44 € – unverändert.

Insgesamt muss Gisela Daßinnies, die in der DDR als Erzieherin arbeitete, nun zwischen 1 200 und 1 300 Euro monatlich für ihre Pflege aus eigener Tasche bezahlen. 34,6 Prozent mehr als noch 2018. Ihre Rente von netto 1 140 Euro hatte im vorigen Jahr noch gereicht, nun nicht mehr.

Die Volkssolidarität begründet den Anstieg mit gestiegenen Energie- und Essenskosten sowie höheren Löhnen. Zudem sollen sieben Pflegekräfte zusätzlich eingestellt werden. „Damit können wir die Versorgungssituation für unsere Bewohner verbessern“, heißt es in dem Schreiben. Und: „Leider trägt in der stationären Altenpflege allein der Heimbewohner das Risiko der notwendigen Kostensteigerungen.“ Und weiter: „Bitte beachten Sie, dass sich gegebenenfalls für Sie die Notwendigkeit einer Antragstellung auf Sozialhilfegewährung ergibt.“ Die Volkssolidarität teilt dazu mit, dass „infolge der Erhöhung des Eigenanteils 2019“ die Zahl der Sozialhilfeberechtigten im Gorbitzer Heim um zehn auf nunmehr zirka 40 gestiegen sei. Das sind rund 20 Prozent der Bewohner. Insgesamt beschäftigt die Volkssolidarität in diesem Heim 125 Pflegekräfte. Auf jeden Pfleger entfallen somit 1,63 Bewohner.

Damit steht das Gorbitzer Pflegeheim gut da. Der sächsische Personalpflegeschlüssel lag 2017 bei 2,83. Der bundesdeutsche Durchschnitt beim Eigenanteil in der stationären Pflege liegt deutlich höher, bei 1 700 Euro. Und auch ein Blick auf die Eigenentgelte der Pflegeheime in Dresden zeigt: Die Volkssolidarität rangiert im Mittelfeld.

© SZ-Grafik

Dennoch wird Dietmar Daßinnies das Gefühl nicht los, dass die Pflege seiner Mutter immer teurer wird „bei weniger Gegenleistung, weil immer mehr Pflegekräfte fehlen“. Er könne das in einem so reichen Land wie Deutschland nicht nachvollziehen. Er ist nicht allein. „Jetzt soll die Mutter auf einen Schlag 360 Euro mehr pro Monat hinlegen? Das ist doch nicht normal!“, empört sich eine Leserbriefschreiberin. Und die Dresdnerin Annelie Schulz, eine ehemalige Beschäftigte der Volkssolidarität, berichtet: „Mir geht es nicht darum, das Heim oder den Träger anzugreifen, oder darum, dass ich dem Personal keine höheren Löhne gönne. Es geht mir nur darum, dass die Kostensteigerung nicht allein zulasten der Bewohner gehen kann.“

Keine Zeit für geduldiges Zuhören

20 Höhenmeter unter den Zimmern des Wohnbereichs, im Erdgeschoss, haben Clemens Burschyk, der Geschäftsführer der Volkssolidarität Dresden, und Heimleiterin Angelika Schitto ihre Büros. Freundlich, aber bestimmt weisen sie die Vorwürfe von Dietmar Daßinnies zurück. Indem sie ihm erst einmal recht geben. Ja, sagt Heimleiterin Schitto, seit zwei Jahren spitze sich die Personalsuche auch in ihrem Haus zu. Es gebe immer weniger Fachpersonal, mittlerweile auch Pflegehelfer. „Was auf dem Markt ist, wird stark umworben, auch von den Krankenhäusern. Die bezahlen in der Regel besser.“ Offen räumt die resolut wirkende Frau ein: „Die Versorgungssituation ist nicht optimal. Wir hätten gerne mehr Zeit für die Bewohner, mehr Ruhe in den Abläufen.“ Geduldiges Zuhören könnten sich ihre Pflegemitarbeiter nicht leisten. Dabei nehme der Anteil der Menschen mit hohem Pflegebedarf unentwegt zu, vor allem durch psychische Erkrankungen. Sie spricht von „Menschen, die einen großen Bewegungsdrang haben und permanente Unruhe auslösen“. Von Bewohnern, die sich nur noch durch lautes Rufen artikulieren könnten und erst aufhörten, wenn ihnen beispielsweise vorgelesen oder vorgesungen werde. Dafür fehle in der Tat das Personal, „und ehrenamtliche Helfer gibt es zu wenige“.

Und Gisela Daßinnies? „Natürlich kenne ich sie“, sagt die Heimleiterin. Stundenlange Gespräche habe sie bereits mit Sohn und Schwiegertochter geführt. Mutter Daßinnies werde regelmäßig mobilisiert, „das ist alles dokumentiert“. Selbstverständlich könne der Sohn diese Dokumentation einsehen, „aber bitte nur nach Anmeldung“. Die Zuckerwerte seiner Mutter seien tatsächlich schlechter geworden, altersbedingt. Frau Daßinnies sei unter regelmäßiger ärztlicher Kontrolle und werde entsprechend versorgt. „Aufgrund des verschlechterten Allgemeinzustandes hat sich auch ihr Pflegebedarf erhöht.“ Die innerfamiliäre Situation spiele natürlich auch immer eine Rolle. Nicht ohne Grund gebe es für Pflegekräfte Fortbildungen zum Umgang mit schwierigen Angehörigen. Der Schalter mit dem grünen Knopf sei im Übrigen keine Stechuhr, sondern die Schwesternruf-Anlage.

Nur noch zulasten der Bewohner

Beim Umbau des Pflegeheimes in Gorbitz  habe die Volkssolidarität Dresden vergleichsweise günstige Pflegeplätze  schaffen wollen, sagt   Geschäftsführer Clemens Burschyk. 
Beim Umbau des Pflegeheimes in Gorbitz  habe die Volkssolidarität Dresden vergleichsweise günstige Pflegeplätze  schaffen wollen, sagt  Geschäftsführer Clemens Burschyk.  © Ronald Bonß

Gisela Schittos Chef Burschyk sitzt derweil auf einem Haufen Geld. Zumindest auf den ersten Blick. Der Jahresabschluss 2017 weist einen Überschuss von 1,06 Millionen Euro aus. Die Ersparnisse belaufen sich auf 4,1 Millionen Euro, Bankkredite gibt es keine. Könnte die Volkssolidarität mit ihrem Vermögen nicht einfach den Bewohnern und ihren Angehörigen finanziell unter die Arme greifen?

Burschyk sagt, das habe man bereits getan. Beim Umbau des Pflegeheimes habe die Volkssolidarität auch eigenes Kapital verwendet, um in Gorbitz vergleichsweise günstige Pflegeplätze zu schaffen. „Mehr geht in der Pflege nicht.“ Der Millionenüberschuss im Jahr 2017 sei eine einmalige Sache gewesen. Die Pflegekasse habe 2016 pauschal höhere Vergütungen gezahlt, für gleich zwei Jahre im Voraus. „Über die Vergütungssätze verhandeln wir jetzt aber nur noch von Jahr zu Jahr, alles andere ist nicht mehr kalkulierbar.“ Und die vier Millionen Euro Guthaben, die würden verbaut. Bis Mitte nächsten Jahres sollen 48 weitere Wohnungen für betreutes Wohnen entstehen. Im Übrigen beliefen sich die monatlichen Betriebskosten für die Volkssolidarität in Dresden auf 1,5 Millionen Euro.

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Pflegepersonal bezeichnet Burschyk „als überaus bedeutsames Risiko“. Dass das Heim in Gorbitz sieben neue Mitarbeiter einstellen kann, das beruhe allein auf einem Schlüssel, „den wir mit den Pflegekassen und dem Sozialhilfeträger aufgrund der Pflegefälle und der prozentualen Verteilung der Pflegegrade in unserem Heim verhandelt haben“. Ob die Volkssolidarität die sieben Stellen allesamt wird besetzen können, steht auf einem anderen Blatt.

Die Gorbitzer Heimleiterin Angelika Schitto reagiert am Ende des Gesprächs noch einmal mit Verständnis auf die Kritik von Dietmar Daßinnies. „Er hat ja nicht ganz unrecht, wenn er auf die ungerechte Finanzierung aufmerksam machen will. Die gibt es ja in der Pflege. Das System funktioniert nur noch zulasten der Bewohner und deren Angehörigen. Viele alten Leute werden in die Sozialhilfe gestürzt.“

Im Fall seiner Mutter will Daßinnies das vermeiden. „Mir geht es gut genug“, sagt er. „Ich werde die bis zu 140 Euro, die jetzt im Monat fehlen, aus eigener Tasche bezahlen.“ Dann beugt er sich über die alte Frau, gibt ihr wieder einen Kuss auf die Wange. „Tschüss Mutti, bis zum Wochenende.“ „Mein Sohn“, antwortet Gisela Daßinnies. „Mein lieber Sohn, der Christian.“ „Aber der Christian lebt doch nicht mehr, ich bin’s, der Dietmar“, sagt ihr Sohn.