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"Protestsongs mag ich nicht"

Blixa Bargeld über das neue Album der Einstürzenden Neubauten, über sein Leben in Ost-Berlin und Corona.

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Blixa Bargeld (Mitte) und seine Kollegen von den Einstürzenden Neubauten melden sich mit neuen Songs zurück.
Blixa Bargeld (Mitte) und seine Kollegen von den Einstürzenden Neubauten melden sich mit neuen Songs zurück. © Mote Sinabel/Another Dimension/Potomak/Indigo/dpa

Das erste reguläre Studioalbum der Einstürzenden Neubauten seit zwölf Jahren ist alles in allem ein veritabel hübsches Spätwerk geworden. Längst scheppern und rumpeln die fünf Berliner um Sänger und Multitalent Blixa Bargeld, die 1981 ihr erstes Album „Kollaps“ veröffentlichten, nicht mehr vornehmlich auf selbst gebastelten Instrumenten drauflos, sondern haben sich für „Alles in Allem“ stärker denn je einem melodischen, eher ruhigen und oft durchaus schöngeistigen Sound verschrieben. Wir unterhielten uns mit Bargeld, der mit seiner amerikanischen Ehefrau Erin sowie der gemeinsamen Tochter in Berlin lebt, über Skype.

Herr Bargeld, welche Auswirkungen wird Corona auf die Kunst haben?

Keine Ahnung, das kann ich nicht beurteilen. Wahrscheinlich wird es demnächst haufenweise schlechte Romane geben.

Wollen Sie da nicht lieber einen guten schreiben?

Nein, ich schreibe Lyrik. Romane waren nie mein Ding, und sie sind es auch jetzt nicht. Ich lese auch keine Romane. Den Kanon der Weltliteratur habe ich irgendwann mal verdaut, aber ich lese schon seit Langem so gut wie gar keine zeitgenössische Literatur. Sondern vorzugsweise Sachbücher.

Der letzte Satz auf Ihrem neuen Album, im Stück „Tempelhof“, lautet: „Hier komme ich abhanden.“ Mögen Sie dieses Gefühl?

Der angesprochene Text bewegt sich in einer Grauzone zwischen Schlaf und Nicht-Schlaf. Bei mir kommt es selten vor, dass ich einen Text in einem Rutsch schreibe. In diesem Fall war der Nukleus die Zeile „Vögel nisten/ es wachsen Salvia/ und Bohnenkraut“. Der Rest hat sich nach und nach drumherum abgelagert. Und meistens kann ich es im Halbschlaf nicht verhindern, dass ich über Worte und Formulierungen nachdenke, um dann am nächsten Morgen mit zwei Zeilen mehr aufzuwachen – sofern ich mich noch an sie erinnern kann. Manchmal treiben mich meine Ideen auch um 4 Uhr nachts aus dem Bett.

Um bei dem Song zu bleiben. Wie kam bei „Tempelhof“ die eher ruhige Musik zustande?

Im vergangenen September nahm ich an einem Brecht-Abend in Dublin teil. Dort hatten sie mir einen Raum zugewiesen, in dem ein Flügel stand. In den Probenpausen komponierte ich dieses Stück. „Tempelhof“ und „Taschen“ waren die letzten beiden Lieder, die fürs Album fertig wurden.

Und wie fing es überhaupt an mit „Alles in Allem“? Hatte sich irgendwann so viel Material abgelagert, dass Sie gesagt haben: Jungs, das riecht für ein Album?

Hier kommt wieder das Schlafen ins Spiel. Ich kam im Januar 2019 aus Hongkong zurück und konnte nicht einschlafen. Da ist mir mitten in der Nacht klargeworden: Ich muss noch ein Album mit den Neubauten machen. Vorher stand das zwar immer mal wieder im Raum, aber ich hatte einfach nicht das dringende Gefühl, die Sache wirklich anzugehen. Dann habe ich die Kollegen gefragt, und die wollten auch alle.

Haben Sie das Geld dafür wieder per Crowdfunding eingesammelt?

Ja. Meine Frau hatte das Crowdfunding, das bei uns „Unterstützermodell“ hieß, ja erfunden und die entsprechende Plattform programmiert. Jetzt haben wir zum ersten Mal mit einem bestehenden Anbieter zusammengearbeitet, nämlich mit Patreon, was ein Mittelding zwischen Crowdfunding und Mäzenatentum ist und uns alle Bausteine liefern konnte, die wir sonst selbst hätten schreiben müssen – also alles vom Streaming bis zur korrekten steuerlichen Abrechnung. Für unsere Unterstützer hatten wir uns zum Abschluss etwas Tolles ausgedacht, nämlich ein Konzert im Gendarmenhaus in Berlin und zusätzlich noch eine Neubauten-spezifische Stadtrundfahrt. Sämtliche Festivitäten mussten wir natürlich nun absagen. Im Moment können auch wir unseren Unterstützern nur Wohnzimmerkonzerte bieten.

„Am Landwehrkanal“ heißt auch ein neues Stück, das zu Zeiten Rosa Luxemburgs spielt. Wären Sie gerne dabei gewesen damals?

Nee. Ich bin lieber der Geist, der durch die Geschichte wandelt. Ich sage in dem Song ja auch: Ich war nicht dabei. Für mich war nur klar, dass das Stück „Am Landwehrkanal“ heißen muss, ich wusste bloß noch nicht, was ich damit anfangen soll. Ich dachte, ich muss mich an den Kanal setzen und warten, bis die Inspiration zuschlägt. Bis Gitarrist Jochen Arbeit meinte: Da haben sie doch Rosa Luxemburg reingeschmissen.

Das ganze Album klingt recht romantisch, um nicht zu sagen: schön. Werden Sie warm mit dem Begriff?

Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Dieses Schöne war immer vorhanden, selbst auf unserem ersten Album gab es ein Stück wie „Sehnsucht“. Aber natürlich hat sich die Gewichtung verändert. Die Band spielt jetzt seit zwanzig Jahren personell unverändert zusammen. Das ist länger als irgendeine Formation von uns vorher. Die Individualität von uns allen macht sich natürlich auch stärker denn je bemerkbar. Und wenn es Stillstand gäbe oder die formelhafte Wiederholung des Immergleichen, dann wäre das doch sehr traurig.

Bargeld wohnt in Berlin. Und spürt noch immer einen deutlichen Ost-West-Unterschied. "West-Berlin ist voll mit Erinnerungen, der Osten überhaupt nicht."
Bargeld wohnt in Berlin. Und spürt noch immer einen deutlichen Ost-West-Unterschied. "West-Berlin ist voll mit Erinnerungen, der Osten überhaupt nicht." © Ursula Düren/dpa

Das neue Album wird oft als Ihre „Berlin-Platte“ bezeichnet. Die Songs heißen etwa „Grazer Damm“, „Wedding“ oder eben „Tempelhof“ und „Am Landwehrkanal“. Wie hat sich das Konzept herausgeschält? Ist es überhaupt eins?

Ich würde bevorzugen, darin kein Konzept zu sehen. Am Anfang der Arbeit wurde ich nach dem Thema gefragt, und ich habe vorsichtig gesagt: Vielleicht hat es irgendwas mit Berlin zu tun. Es gab zunächst ein Stück, das hieß „Welcome to Berlin“. Aufgrund mangelnder musikalischer Substanz und der Tatsache, dass es zu sehr als Kommentar missverstanden werden konnte, ist es aber nicht auf dem Album drauf. Ich wollte in dem Text auf witzige Weise meinem Zynismus Ausdruck verleihen, aber es kam rüber wie ein Protestsong, und das mochte ich nicht. Somit ist nicht nur das Stück, sondern auch das Zentrum der ganzen Berlin-Bezogenheit weggefallen.

Haben Sie viel zu meckern an Berlin?

Wenn dem so wäre, dann hätten wir dieses Stück vielleicht veröffentlicht.

Sie sind in West-Berlin geboren, haben in Peking und in San Francisco gelebt und sind jetzt seit Jahren mit Frau und Tochter wieder in Berlin ansässig. Nehmen Sie die Stadt heute anders wahr als vor Ihrem Weggang?

Ich lebe jetzt in Ost-Berlin. Daran habe ich keine Erinnerungen, die zurückreichen vor das Jahr 1990. Um in mein altes Berlin zurückzukehren, müsste ich durch den Tiergartentunnel in den Westen fahren, dort könnte ich erzählen, wo mein Zahnarzt war und wo meine erste Freundin wohnte.

Wo leben Sie jetzt?

Im Scheunenviertel. Das ist heute die gentrifizierteste Gegend in ganz Berlin. Noch als ich aus Berlin fortzog, so 2001/2002, sah es hier so aus, als sei der Zweite Weltkrieg letzte Woche erst zu Ende gegangen. Und heute ist es die teuerste innerstädtische Wohngegend Berlins überhaupt.

Sind Sie eher Opfer oder eher Täter der Gentrifizierung?

Weder noch. Ich bin ja hier geboren. Ich bin Berliner.

Denken Sie dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung noch in West- und Ost-Kategorien?

Ja. Wenn ich mit dem Auto durch die Stadt fahre, dann weiß ich genau, wo die Mauer stand. Und ich spüre den Unterschied immer noch deutlich. West-Berlin ist voll mit Erinnerungen, der Osten überhaupt nicht.

Das Interview führte Steffen Rüth.

Das Album: Einstürzende Neubauten, Alles in Allem. Potomak/Indigo

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