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„Was hast du denn für eine dunkle Stimme bekommen?“

Die Olympiasiegerin Rica Reinisch spricht über ihre Doping-Erfahrung und warum sie ihre Medaillen dennoch nie zurückgeben würde. Das große Exklusiv-Interview.

Von Alexander Hiller
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Die dreifache Olympiasiegerin Rica Reinisch im neuen Dresdner Schwimmsportkomplex. Sie blickt, trotz Doping-Erfahrungen, mit viel Freude auf ihre aktive Zeit zurück.
Die dreifache Olympiasiegerin Rica Reinisch im neuen Dresdner Schwimmsportkomplex. Sie blickt, trotz Doping-Erfahrungen, mit viel Freude auf ihre aktive Zeit zurück. ©  dpa/Robert Michael

Dresden. Lange ist sie nicht da gewesen. Als Rica Reinisch im Februar 2020 an ihre alte Wirkungsstätte in die Schwimmhalle an der Freiberger Straße in Dresden zurückkehrt, muss die dreifache Olympiasiegerin viele Hände schütteln. 

Als Neunjährige schwamm das schlaksige Talent von der BSG Fortschritt Großschönau beim großen Bezirkssportclub in Dresden vor, der Rest ist olympische Geschichte. 1980 in Moskau gewann Reinisch im Alter von 15 Jahren drei Goldmedaillen, jeweils in Weltrekordzeit – und beendete ein Jahr später ihre Karriere. 

Die mittlerweile 55-Jährige, die in der Nähe von Aachen lebt, polarisiert, immer noch. Reinisch hat es als eine von wenigen erfolgreichen DDR-Sportlern gewagt, sich an der Doping-Aufarbeitung aktiv zu beteiligen. Schmerzhaft offen spricht sie über sich und andere. Das gefällt nicht jedem.

Das exklusive Interview 40 Jahre nach dem Olympia-Erfolg – über die Spiele von Moskau, eine exklusive Siegerparty, über Doping und ihr Leben danach.

Frau Reinisch, hatten Sie ein Schlüsselerlebnis auf dem Weg zu Olympia?

Das waren die Olympischen Spiele 1976 in Montreal. Wir saßen im proppevollen Fernsehraum des Internats – und schauten das 100-Meter-Rückenfinale der Damen an. Ulrike Richter, die tagtäglich im Training neben mir schwamm, schlug als Olympiasiegerin an. Davon war ich so fasziniert, dass ich so vor mich hin in den Fernsehraum gesprochen habe: „Ich werde auch Olympiasiegerin.“ Da wurde es ganz ruhig, die guckten mich alle an und lachten dann. Für mich war das überhaupt nicht nachvollziehbar, denn für mich ward mein Ziel geboren. Wissen Sie, was ich von diesem Moment an gemacht habe?

Bitte erzählen Sie.

Ich habe für mich allein nach den Trainingseinheiten immer noch drei, vier Wenden geübt oder Startsprünge. Die anderen haben gedacht: Die ist doch bescheuert, die Reinisch. Für mich war es aber eine Genugtuung, dass ich daran gearbeitet habe, was ich nicht konnte. Meine Eltern haben zum Glück nie Druck ausgeübt. Ich hatte ja riesiges Heimweh, und sie haben gesagt: Komm zurück, das ist kein Thema. Aber das wäre für mich eine Niederlage gewesen. Ich wollte nicht zurück nach Großschönau, ich wollte mich da durchboxen, war schon immer ein Kämpfer. Was nicht heißt, dass ich nicht einen Unsinn nach dem nächsten gebaut hätte. Im achten Schuljahr waren von den ursprünglich 33 Schwimmtalenten noch zwei übrig – Dirk Richter und ich.

Kurz vor Olympia noch eine Blinddarm-Operation

Wann war Ihnen bewusst: Ich kann mein Versprechen einlösen?

Die Erkenntnis kam schleichend, als ich 1979 ins Nationalteam berufen wurde. Da gewann ich im bulgarischen Sandanski bei den Jugend-Wettkämpfen der Freundschaft. Von diesem Moment an wusste ich, ich würde es schaffen. Ich hatte allerdings, das wissen die wenigsten, im April 1980 eine Blinddarm-Operation, keine Olympianorm – und trotzdem keinen Schiss. Ich konnte schnell wieder ins Training einsteigen, hatte aber nur eine Qualimöglichkeit im Mai bei der DDR-Meisterschaft. Dort schwamm ich Jahresweltbestzeit.

Sie waren als damals erst 15-Jährige bei Olympia in Moskau sicher gut abgeschirmt von der Öffentlichkeit.

Nein, gar nicht. Dazu kann ich eine schöne Geschichte erzählen. Ich war mit meiner engsten Freundin Ute Geweniger auf dem Zimmer, wir waren auch diejenigen, die regelmäßig aus der Reihe tanzten und die Nationalmannschaft aufmischten. Ute ist Doppel-Olympiasiegerin in Moskau geworden, und es gab für jeden Olympiasieg von DTSB-Boss Manfred Ewald eine Flasche Rotkäppchen-Sekt. Uns war klar: Die heben wir uns bis zum Schluss auf. Gesagt, getan. Wir sind nach dem letzten Wettkampf Arm in Arm mit fünf Flaschen durch das Olympische Dorf gezogen und auf einer riesigen Rasenfläche gelandet. Es versammelten sich immer mehr Leute aus anderen Nationen. Die brachten Whisky und Rotwein mit. Ich lag irgendwann in all dem Trubel im Schoß eines Franzosen, der mir mit seiner Gitarre ein Liedchen sang. Irgendwann stand, ich glaube, es war nachts halb zwei, Ewald höchstpersönlich in der Runde. Daran kann ich mich erinnern, aber nicht, wie ich auf mein Zimmer gekommen bin.

Rica Reinisch sitzt in der neuen Schwimmhalle Freiberger Straße auf einer Treppe, die von früher erhalten geblieben ist. Als 15-Jährige gewann sie 1980 bei Olympia dreimal Gold.
Rica Reinisch sitzt in der neuen Schwimmhalle Freiberger Straße auf einer Treppe, die von früher erhalten geblieben ist. Als 15-Jährige gewann sie 1980 bei Olympia dreimal Gold. ©  dpa/Robert Michael

Gab es eine Strafe für die Party-Nacht?

Man hat uns eine Prämie gestrichen. Anstatt für drei Olympiasiege habe ich nur die Prämie für zwei Goldmedaillen bekommen, Ute für eine. Ich meine, dass wir damals pro Olympiasieg 25.000 Ostmark erhalten haben.

Sie haben in Moskau zuerst mit der Lagenstaffel Gold gewonnen. Hat das für die Einzel bei Ihnen alle Fesseln gelöst?

Nein, ich wusste, dass ich gewinnen würde. Als ich zwölf oder 13 Jahre alt war, hatten wir in der Nationalmannschaft bereits eine Sportpsychologin von der DHfK Leipzig. Schon da stellte ich fest, dass ich ein spiritueller Mensch bin. Ich konnte mich gut in Situationen hineinversetzen, mich fallen lassen, in die Tunnel begeben, die ich brauchte. Das habe ich früh gelernt. Heute wird viel auf das staatlich verordnete Doping reduziert, das hervorragend organisierte DDR-Sportsystem wird oft ausgeblendet. Das macht mich sauer. Man musste über Grenzen gehen. Was meinen Sie, wie oft es vorgekommen ist, dass ich während des Trainings auf die Toilette bin, mich vor Überanstrengung übergeben musste und dann wieder ins Wasser gesprungen bin.

Sie sprechen verordnetes Doping an. Wurden Sie darauf reduziert?

Ich wurde teilweise über Social-Media-Kanäle angeschrieben, auch von ehemaligen Sportlern aus den USA, ob ich mal darüber nachgedacht hätte, meine Olympiamedaillen abzugeben. Nö, habe ich nicht – ganz simpel. Auch weil ich bis zu einem gewissen Zeitpunkt nicht definitiv wusste, dass ich als Minderjährige anabole Steroide verabreicht bekommen habe. Das war auch der einzige Grund, weshalb ich an die Öffentlichkeit gegangen bin. Mir ging es nie darum, Doping generell an den Pranger zu stellen. Alle über 18 Jahren mussten sowieso dafür unterschreiben.

Warum haben Sie sich so rigoros an der Doping-Aufarbeitung beteiligt?

Für unsere Sportler wurden immense Summen ausgegeben und ein wissenschaftliches System ausgeklügelt. Sport war der Export-Schlager der DDR. Dass sie uns wie Marionetten behandelt haben, sei jetzt mal dahingestellt. Für mich hat in der Aufarbeitung eine große Rolle gespielt, dass es nicht nur um physiologische Eingriffe ging, sondern auch um psychische. Vergabe von Anabolika geht in die Psyche, macht süchtig. Die sind, das machte mich so sauer, das Risiko eingegangen, sich Suchtkranke heranzuziehen. Ich hatte noch Glück, weil ich rechtzeitig aufgehört habe.