Sachsens großer Weltenbummler erzählt

Das erste Fahrrad ist ein besonderes, das erste Erwachsenenrad auch. Richard Löwenherz bekam mit 13 Jahren ein neues Mountainbike von seinen Eltern in Klettwitz geschenkt. Es war überfällig, er stieß mit den Knien schon an den Lenker des alten. Als der Schüler das 600-Mark-Rad erhielt, ahnte niemand, dass es in 23 Jahren, exakt vom 14. April 1993 bis zum 18. April 2016, genau 112 894 Kilometer rollen sollte – fast dreimal um den Äquator. Von Beginn an war ein Kilometerzähler dabei. Sein Besitzer nannte das unverwüstliche Rad „Berserker“. Es machte dem Namen alle Ehre.
Der erste mehrwöchige Trip löste etwas aus bei Richard Löwenherz, was sein Leben von da an bestimmen sollte. Bei einer Radtour mit Schulfreunden nach Südschweden genoss er dieses „frei unterwegs sein an den schönsten Plätzen in der Natur, zu übernachten, wo es einem gefällt“, erzählt der 39-Jährige im Interview mit der Sächsischen Zeitung. „Ich wiederholte das jeden Sommer, manchmal auch im Winter.“ Er radelte immer weiter in den Norden, umrundete die Ostsee, kam in Finnland bis an die russische Grenze. „Da sah alles noch wilder und abenteuerlicher aus.“
Neugierig wagte er sich weiter Richtung Osten, Schritt für Schritt, ständig begeisterten ihn neue Eindrücke, neue Dimensionen. „Was ich zuletzt gesehen hatte, zog mich magisch an, ich wollte immer tiefer eintauchen, meinen Horizont erweitern“, beschreibt der gebürtige Dresdner seine inzwischen jährlich wochenlangen Touren durch Sibirien. Er geht seiner Sehnsucht nach, sieht sich nicht als Aussteiger, selbst wenn er inzwischen extrem unterwegs war, sogar bei minus 50 Grad unter freiem Himmel geschlafen hat.
Allein viel bewusster unterwegs
Passend zum Fernweh studierte er Geografie und Meteorologie, ohne Zeitdruck. Seine Maxime: „Ganz gleich, was ich mache: Es soll mich erfüllen und weiterbringen.“ Als Diplom-Geograf gelang ein nahtloser Übergang ins Berufsleben bei einer privaten Berliner Wetterfirma. Fünf Jahre funktionierte das Modell des Teilzeitjobs, bei dem er im Winter mehr arbeitete, um sich im Sommer reichlich Freiraum für Radtouren zu verschaffen. Als nur noch maximal drei Wochen Urlaub am Stück möglich waren, kündigte Löwenherz. Er nahm sich ein Jahr Auszeit, lebte vom Gesparten, begab sich drei Monate in die menschenleere Wildnis Nordsibiriens, und im Winter fuhr er auf Eispisten bis zum Polarmeer. Jetzt arbeitet er in der Schweiz als Event-Manager, baut Technik für Vorträge auf, tritt mit seinen Reiseberichten auf und kann im Sommer auf Tour sein.
Meist ist Richard Löwenherz alleine unterwegs. Einsam fühlt er sich dabei nicht. Die endlosen Weiten Sibiriens haben noch nie aufs Gemüt geschlagen. „Allein bin ich viel bewusster unterwegs, die Sinne werden geschärft und das Selbstvertrauen gestärkt“, sagt er. Zudem will er möglichst viel Natur intensiv genießen. „Wenn man dann Menschen in abgelegenen Regionen trifft, dann sind diese Begegnungen umso intensiver. Die Leute sind anders drauf, weil kaum einer hinkommt.“ Dabei ist ihm bewusst, dass er mit seinem vollgepackten Rad wie ein Ufo einschwebt.
In Russland fühlt er sich sicher, besonders in abgelegenen Regionen. „In den Dörfern kennt jeder jeden. Ich muss nie mein Rad anschließen, wenn ich mal in einen Laden gehe“, sagt Löwenherz, und er weiß, wie wichtig der Erstkontakt ist. „Meist wollen die Leute wissen, woher ich komme, wohin ich will. Und immer schwingt die Frage mit: Was bist du für einer?“
Löwenherz wird in Sibirien auch respektiert, weil er den extremen Bedingungen trotzt. Kälte reizt ihn sogar, weil er bei Minusgraden gezwungen ist, körperlich etwas zu tun. Hitze lähmt dagegen. „Im Winter sind die Landschaften wie konserviert, alles glitzert, der Schnee knirscht, und beim Atmen ziehen sich die Nasenhärchen zusammen“, beschreibt er seine intensiven Kälte-Erlebnisse, bei denen er sich mitunter ausgesetzt fühlt – aber nicht in Lebensgefahr. „Man muss natürlich achtsam sein, die Signale des Körpers deuten“, erzählt er. „Das habe ich mit der Zeit gelernt, habe mich auf Basis vorangegangener Erfahrungen immer weiter vorangetastet, bis ich irgendwann auch die Zuversicht hatte, mit dem Fahrrad über das zugefrorene Polarmeer fahren zu können.“ Dort saß er auch mal einen Tag im Schneesturm fest. Erfrierungen blieben ihm bisher erspart.
Kältetrips sind logistisch anspruchsvoll. „Meist habe ich zu viel Gepäck dabei“, gibt er zu und eine Episode zum Besten von seiner jüngsten Winterreise, als sein Benzinkocher kaputt ging. Verunreinigtes Benzin ruinierte ihn und auch einen weiteren. Die dritte Option war ein Brenner mit Gaskartusche. Die funktionierte nur, weil er die Kartusche zuvor am Körper wärmte. Es war eine Gratwanderung mit einer Option, die es nur gab, weil er darauf eingestellt war. „Wenn ich für potenzielle Probleme keine Lösung hätte, würde ich mich nicht rauswagen“, sagt der Extremradler, der sich an sowjetischen Generalstabskarten orientiert, die im Internet kursieren.
Auch wenn er schon mit 70 bis 80 Kilogramm Gepäck auf dem Rad unterwegs war – bei Schäden wie einem Rahmen- oder Sattelbruch. musste er improvisieren. Als sich in der mongolischen Wüste mehrere Speichen verabschiedeten, half ein Draht auf dem Weg. Der wurde zu Hilfsspeichen gebogen und reingefädelt. Das hielt bis zum nächsten Ort, dort fand sich dann ein altes Rad zur Ersatzteilspende. Begegnungen mit Wildtieren waren dagegen bisher selten. Wölfe traf er noch keine, aber mit Braunbären gab es schon unliebsame Begegnungen. Auf einer Sommertour zum Ochotskischen Meer ist er nur knapp einer Attacke entkommen.
Am Samstag zu Gast in Dresden
Obwohl Richard Löwenherz extrem unterwegs ist, trainiere er nicht gezielt für seine Touren. Er fährt so oft Rad im Alltag, wie er kann. Selbst die Wintertouren geht er untrainiert an. „Meine ersten Tour-Tage sind das Training. Ich komme dann langsam rein. Nach einer Woche läuft es, nach drei Wochen erreiche ich mein Leistungshoch“, beschreibt er seinen Formaufbau. Bei längeren Touren spürt er aber auch, wie der Körper die Reserven abbaut, wenn es an die Substanz geht. Inzwischen ist der Sibirienfreund zudem mit einem drei Kilogramm leichten Schlauchboot unterwegs. Bikerafting nennt er die Kombination.
So kann er noch tiefer in die Wildnis eintauchen. Boot, Paddel, Schwimmweste sind mit 5,5 Kilogramm für ihn ein vertretbares Gewicht. Zwar geht es mit Ausrüstung und Rad im Boot eng zu, er kam damit allerdings schon in unberührte Natur und durch wildes Wasser.
Am Samstagabend wird Richard Löwenherz in Dresden zeigen, was er auf seinen Trips durch den wilden Osten Russlands erlebte. Seine Botschaft beim Sibirientag in der Reihe „Bilder der Erde“: „Auch mit einfachen Dingen kann man große Abenteuer erleben. Man soll seiner Sehnsucht nachgehen, sich trauen, aufzubrechen.“ Vieles hat der Single für sich bereits abgehakt. Aber es gibt immer noch weiße Flecken. Kamtschatka lockt mit Vulkanen, Zentralasien mit Halbnomaden. Löwenherz’ Unrast hat viele Ziele.
Weitere Infos und Tickets: www.bilder-der-erde.de