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Sehnsucht nach Down Under

Eine Wissenschaftlerin aus Bautzen hat in Australien nach den Spuren sorbischer Auswanderer gesucht. Sie entdeckte Grabsteine, Glocken und frisches Leinöl.

Von Miriam Schönbach
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In den vergangenen fünf Wochen ist die Wissenschafterin Trudla Malinkowa den Spuren der sorbischen Auswanderer in Australien nachgegangen. Eine der größten Gruppen aus der Lausitz führten die sechs Herren auf der Schwarz-Weiß-Fotografie an, unter ihnen un
In den vergangenen fünf Wochen ist die Wissenschafterin Trudla Malinkowa den Spuren der sorbischen Auswanderer in Australien nachgegangen. Eine der größten Gruppen aus der Lausitz führten die sechs Herren auf der Schwarz-Weiß-Fotografie an, unter ihnen un © SZ/Uwe Soeder

Bautzen. Ohne eine Miene zu verziehen, schauen die sechs Herren von der alten Schwarz-Weiß-Fotografie. Trudla Malinkowa betrachtet das Bild. „Das sind die führenden Köpfe der sorbischen Auswandererbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts nach Australien. Ich vermute sogar, die Aufnahme entstand noch 1851 in der alten Heimat“, sagt die Wissenschaftlerin. Gerade ist die Bautzenerin von ihrer Reise nach Down Under zurückgekommen. Fünf Wochen hat sie im Süden des fünften Kontinents nach Spuren der aus der Ober- und Niederlausitz gesucht.

Ihre Reise begann Trudla Malinkowa in Adelaide, dort, wo vor rund 170 Jahren die meisten sorbischen Auswanderer nach einer gut viermonatigen Fahrt auf Segelschiffen strandeten. Einer der ersten Neuankömmlinge machte sich wohl bereits 1825 aus Ressen bei Drebkau zu Fuß auf den Weg nach Bremen, um vor dort aus ins Ungewisse zu segeln. Für den Windmüller Johann Richter aus Rodewitz bei Hochkirch begann 1843 mit Frau und zwei Kindern das Australien-Abenteuer. Auch in den folgenden Jahren kleckerten immer wieder einige Sorben hinterher, bis sich am 15. August 1848 die erste größere Gruppe um den Zschornaer Müller Michael Deutscher mit 46 Personen auf der „Alfred“ Richtung Adelaide aufmachten. Eigentlich wollten sie zusammen eine Kolonie gründen.

Doch was treibt die Auswanderer – Sorben wie Deutsche – in dieser Zeit aus ihrem Land? Gleich mehrere Faktoren kommen zusammen. In der Lausitz wird 1830 die Leibeigenschaft abgeschafft, die 1848er-Revolution löst Ungewissheit aus. Missernten machen das Überleben schwer. Die Bevölkerungszahl explodiert. Die Menschen sind so hungrig und mahlen sogar aus Queckenwurzeln Mehl. „Die Not drückt nach außen. Das andere Land zieht wie ein Magnet“, sagt die Wissenschaftlerin. Schließlich wirbt die britische Kolonie Australien ganz aktiv um junge Arbeitskräfte. Sie sollen das erst 1770 entdeckte Land aufbauen.

Auf dem Ortseingangsschild von Tarrington ist noch der einstige Name zu lesen, den die sorbischen Siedler mitbrachten: Hochkirch. 
Auf dem Ortseingangsschild von Tarrington ist noch der einstige Name zu lesen, den die sorbischen Siedler mitbrachten: Hochkirch.  © Trudla Malinkowa

Die Auswanderer aus der nördlichen Oberlausitz verlassen ihre vertraute Scholle auch, weil der preußische König in die Kirchenpolitik eingreift. Er will die Lutherische und Reformierte Kirche vereinigen. Die sorbischen Lutheraner widersetzen sich – und wählen die Flucht in die Ferne. So gehen die sorbischen Auswanderer zuerst ausschließlich nach Australien. „Ich schätze, es waren 2000 Sorben, etwa genauso viele, wie später nach Texas kamen“, sagt die Wissenschaftlerin. Sie vermutet, dass ein vernichtender Bericht des Australien-Rückkehrers Carl Traugott Höhne 1853 den Ausschlag gab, das fortan die Lausitzer nach Amerika aufbrachen. Noch im selben Jahr stachen die ersten sorbischen Familien in See mit dem Ziel Amerika.

Mit weitem Land und einer sicheren Zukunft warben auch die Auswanderungsagenten für Down Under. „Fast in jeder Stadt und in größeren Dörfern gab es solche Büros. Kaufleute machten das nebenbei und besorgten die Schiffspassage. Die Überfahrten wurden ja sogar bezahlt. Die Agenturen funktionieren wie Reisebüros“, sagt Trudla Malinkowa. Tausende machten sich seinerzeit auf den Weg. Die meisten neuen Siedler für Australien kamen aus den preußischen Provinzen Brandenburg, Schlesien und Posen, weitere aus Mecklenburg, Holstein, Hannover und Sachsen. Die ersten Frommen gehen 1838 aus Schlesien auf den Kontinent.

Noch einmal schaut Trudla Malinkowa auf das alte Schwarz-Weiß-Foto. Jahrelang hat sie bei ihren Recherchen zur sorbischen Auswandererbewegung nach diesem Bild gesucht. Das Motiv kannte sie aus einer Publikation aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Danach galt es als verschollen, bis die Wissenschaftlerin des Sorbischen Instituts das Bild bei Kollegen im Sorbischen Kulturarchiv auf dem Tisch liegen sah. Sie konnte einige der Herren identifizieren. Ganz rechts sitzt Johann Dahlwitz aus Cortnitz, neben ihm wahrscheinlich Johann Zwahr aus Drehsa. Mit ihnen traten 90 Personen auf der „Helena“ 1851 die Reise nach Australien an. Am Sonnabend, dem 16. August, begann ihr Abenteuer auf dem Bautzener Bahnhof.

Die Zeitung „Tydźenske nowiny“ berichtete sieben Tage später über die Gruppe um Johann Zwahr. „Die meisten waren Wenden, einige davon arm, andere aber wohlhabender, welche hier in guten Verhältnissen lebten, wie sie sie in der Fremde vielleicht nicht wieder finden werden. Die älteste Person war eine 67-jährige Frau, die jüngste aber ein fünf Wochen altes Kind ... Die Auswanderer, die nahezu zwei Wagen füllten, weinten fast alle beim Verlassen des Vaterlandes ...“, heißt es im Beitrag. Zwischenstopps legten die Mutigen in Dresden, Leipzig und Wittenberge , wo sie auf eine Fähre umsteigen mussten. Schon dieser Trip hätte für viele als Sensation genügt. Am Montag standen sie dann staunend am Hamburger Hafen. – Der 400-Tonner startete dort am 5. September 1851 seine Überfahrt nach Australien. Auf der Ankunftsliste findet sich unter der Familie Zwahr gleich zweimal der Name Johann. Letzterer wird auf hoher See geboren, andere Auswanderer sterben bei der Überfahrt. Am 24. Dezember erreichte die Gruppe Adelaide. Von dort aus schickten sie einen Boten zu bereits ausgewandeten Bekannten. Mit Fuhrwerken ging es ins Barossa-Tal nördlich der Hafenstadt, um dort auf dem weiten Farmland sich anzusiedeln.

Diesen Weg hat nun auch Trudla Malinkowa genommen. Unterstützt wurde sie bei ihrer Reise von den sorbischen Vereinen in Australien, der „Wend/Sorb Society of South Australia“ und der „Wendish Heritage Society Australia“. „Ich habe ihnen gesagt, was ich sehen möchte. Denn ich war ja zum ersten Mal in Australien“, sagt die Sorbin. Auf die Spuren der Auswanderer in Amerika hat sie sich seit 1992 immer wieder begeben. Das Thema selbst beschäftigt die Wissenschaftlerin seit den 1980er-Jahren. Damals war ihr Mann Pfarrer in Gröditz und immer wieder klingelten dort schon in der DDR Australier oder Amerikaner und fragten, ob sie mal in die Kirchenbücher schauen dürften. Das waren Nachfahren der Lausitzer Auswanderer aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Auch auf den Friedhöfen im Süden Australiens sind noch die Spuren der einstigen Glückssucher aus der Lausitz.
Auch auf den Friedhöfen im Süden Australiens sind noch die Spuren der einstigen Glückssucher aus der Lausitz. © Trudla Malinkowa

Neben Gröditz verließen in der Oberlausitz Sorben aus Hochkirch und Kotitz ihre Heimat Richtung Australien, aus der Niederlausitz gingen viele aus Werben, Kolkwitz, Jänschwalde und Peitz. „Anders als in Amerika zerbröselte die sorbische Gemeinschaft schnell“, sagt die Auswanderungsforscherin und zeigt aktuelle Fotografien. Auf ihren Bildern ist unter anderem ein Friedhof zu sehen. Auf den Grabsteinen stehen die Namen Zwa(h)r oder Dallwitz. „Auf manchen steht als Geburtstort Sachsen oder Königliches Sachsen, in seltenen Fällen der einstige Wohnort“, sagt sie.

Übrigens ahnen die Auswanderer wohl, dass es ihnen schwerfallen wird, zusammenzubleiben. Deshalb versuchen sie immer wieder, Pfarrer aus der Heimat anzuwerben, um eine Kirchgemeinde zu gründen. Ein Geistlicher stirbt aber schon in Berlin auf dem Weg nach Australien. Ein anderer Pfarrer bringt schon aus seiner Weißenberger Gemeinde einen so schlechten Ruf mit, dass ihn auch fern der einstigen Kirche niemand akzeptiert. Und selbst Pfarrer Jan Kilian, der 1854 mit knapp 600 Sorben von der Lausitz nach Amerika zieht, erreicht im neuen Land eine Nachricht der australischen Auswanderer mit der Bitte, er möge zu ihnen kommen. Kilian nutzt diese Schreiben als Druckmittel für seine Schäfchen in Amerika, damit der Gemeindeaufbau schneller vorangeht.

Trudla Malinkowa holt zwei weitere Fotos hervor. Das alte Bild zeigt Johann Zwahr und seine Ehefrau Anna vor seinem Haus im südaustralischen Ebenezer um 1900, bei der Farbfotografie fehlen nur die beiden Personen. Das Haus war bei ihrem Besuch noch da, als hätten es die Zwahrs erst vor Kurzem verlassen. Auf der einstigen Farm von Andreas Albert aus Rachlau unweit des ehemaligen, australischen Ortes „Hochkirch“ findet die Wissenschaftlerin noch Linden, die der Besitzer in die Hofeinfahrt gesetzt hat. Der Nationalbaum in Australien ist der Eukalyptus.

Apropos Hochkirch. Selbstverständlich nahmen die Sorben für ihre neuen Siedlungen einige alte Namen mit. Mit dem Ersten Weltkrieg wurden diese deutschen Bezeichnungen von der Landkarte getilgt. Heute heißt der Ort Tarrington. In der Unterzeile des Ortseingangsschildes steht „Formerly Hochkirch“. Entdeckt hat die Bautzenerin auch zwei australische Kirchgemeinden, in denen Glocken aus der Glockengießerei Gruhl in Kleinwelka läuten. Insgesamt hat die Wissenschaftlerin 25 Familien mit sorbischen Wurzeln in den Bundesstaaten Südaustralien, Victoria und New South Wales besucht. Außerdem hat sie in Archiven geforscht und Vorträge über die Lausitz und die Auswanderer gehalten.

Doch was ist aus den Glückssuchern von einst geworden? „Das waren oft Farmer mit Unternehmergeist. In der Kleinstadt Walla Walla zum Beispiel steht auf einem Autohaus in großen Buchstaben Lieschke. Gegenüber auf den Getreidesilos liest man Kotzur“, sagt Trudla Malinkowa. Beide Namen finden sich auf den Auswandererlisten wie auch Nagorke. Die Familie kam aus der Niederlausitz. Die Nachfahren betreiben in Harrington ökologische Landwirtschaft, bauen Lein an und pressen australisches Leinöl. „Nachdem viele ihre Herkunft vergessen hatten, besinnt man sich seit den 1970er-Jahren zurück auf die Vorfahren“, sagt die Spurensucherin. Längst hat sie noch nicht alle australischen Fäden aufnehmen können, aber vielleicht geht es bald mal wieder nach „Down Under“.