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Spartacus’ Tod krönte die Arbeiter-Massenfestspiele

Bewegt den Chor: Tausende Spieler erprobten vor hundert Jahren in Leipzig das Theater der Weltrevolution. Kunst wurde zur Waffe.

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Die Geschlossenheit der Masse hatte 1920 symbolische Wirkung bei den Arbeiter-Festspielen.
Die Geschlossenheit der Masse hatte 1920 symbolische Wirkung bei den Arbeiter-Festspielen. © Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

Von Tobias Prüwer

Die Tribüne füllen 50.000 Zuschauer, ihr gegenüber lagern Legionäre, ihre Brustpanzer und Helme funkeln im Dämmerlicht. Sie bewachen einen Menschenmarkt, auf dem nur in Lendenschurze gewickelte Sklaven verkauft werden. Diese schwören bald kollektiv Rache, Spartacus wird ihr Anführer. Statt sich als Gladiatoren gegenseitig zu bekämpfen, richten sie ihre Waffen gegen Rom. Die Schlacht beginnt als Wimmelbild, Feuer lodern auf, Leichenberge stapeln sich. Schließlich unterliegen die Aufständischen. Am höchsten Punkt der Arena wird Spartacus ans Kreuz gebunden – sein Leiden füllt den Epilog. Überwältigen sollte die Inszenierung, die vor hundert Jahren die Massenfestspiele der Gewerkschaften begründete.

Die Festspiele waren im Sinne des Arbeitertheaters keine bloße Unterhaltung, sondern dienten der Agitation: „Aus Kunst ist eine Waffe geworden“, lautete das Credo des Zentralorgans Arbeiterbühne. Das Individuum verschwindet hinter der Masse, die wie ein einziger Riesenkörper erscheint. Damit wird kollektiv Macht symbolisiert und ein innerer Zusammenhalt hergestellt.

Die Arbeiterbewegung kannte Sprechchöre als politisches Mittel auf Demonstrationen. Nun wurde ihr künstlerischer Wert sichtbar. Für die eigene Ästhetik der Massenfestspiele kombinierte man sie mit Bewegungschören: Menschen, die gemeinsame Bewegungen ausführen. Diese Geschlossenheit erzielte gewaltige Wirkung, weshalb die Leipziger Festspiele der Jahre 1920 bis 1924 prägend waren. Bald nutzte die Arbeiterbewegung Massenchoreografien reichsweit.

1.800 Spieler auf der Radrennbahn

Die Gewerkschaftsspiele knüpften an sowjetischen Vorbildern an. Dort wie in Leipzig nahm man Bezug auf konkrete historische Ereignisse. Auf einer Fläche von mehr als 64.000 Quadratmetern zeigte man den Spartacus-Aufstand, den Bauernkrieg und die Französische Revolution, bevor die Stoffe mit der Weltrevolution allegorischer ausfielen. Am Abend des 1. August 1920 wurde die Radrennbahn Cottaweg – heute das Leipziger Kleinmesse-Gelände – zum Kampfplatz der Sklaven gegen Rom. Auf dem Menschenmarkt bilden sie die erste Massenszene. Unzählige fast nackte, sich windende Leiber sehen für den Zuschauer aus der Ferne wie ein einziger gedemütigter Sklavenkörper aus.

Auf der Bildgewalt ruht der Schwerpunkt im ersten Leipziger Festspiel. Ohne viele Worte wird der Inhalt für die Betrachter sofort verständlich, machen die Bewegungen der 900 Darsteller die Aussage der Inszenierung plastisch. Verfeinert findet sich diese Technik im nächsten Jahr. Für „Der arme Konrad“ wird die Dammkrone der Radrennbahn zur Burgmauer, auf der Ritter, Richter, Kleriker wachen. Auf einen fröhlichen Totentanz und feist dinierende Adlige folgend, ziehen hungernde Bauern in langen Reihen zu den Toren herein. Auch ihr Aufstand wird zerschlagen, bis unter dem Auftritt des Todes auch die Macht der Krone erstirbt.

Aufgrund seiner Geschlossenheit beschreiben Augenzeugen dieses als das künstlerisch gelungenste Massenfestspiel. Die Choreografen, so ein Kritiker, haben es verstanden, „Bewegung und Gliederung und Rhythmus“ in die 1.800 Beteiligten zu bringen, „so daß nirgends ein toter Punkt blieb“. Die Musik schuf Einigkeit und Gleichförmigkeit der vielen Körper, die zum Beispiel des Schnitters Flötenspiel in Kreisen und Spiralen beim Totentanz folgten.

Das Amalgam aus Musik und chorischer Bewegung war ein Novum der Leipziger Spiele. In der geschlossenen Dramenform wurde die Handlung über das Bild vermittelt. Naturalistische Szenen dominierten, auch wenn bereits stilisierte Elemente eingesetzt wurden, wie die sich zur Musik bewegende Schlange der Bauern. Eingeflochtene Volkstänze halfen bei der Rhythmisierung der Inszenierung und verliehen ihr Dynamik, indem sie die Einzelbilder zum Ganzen verbanden.

Angesichts dieser positiven Erfahrungen ist es unverständlich, dass das Massenfestspiel 1924 floppte. Am 3. August führten 1.000 Spieler und Sportler „Erwachen“ auf – der Auensee und seine Ufer waren die Spielflächen. Sie zeigten, wie die Welt dem Kolonialismus abschwört, die Völker friedvoll zusammenrücken; wie sich Schwerter zu Pflugscharen verwandeln und Kanonenboote in Fischkutter. Dafür fuhren mit Lampions geschmückte Schiffe Parade und Synchronschwimmer formten Sterne und andere Figuren aus Fackeln.

Das Wasser trug als visuell reizvolles Element bei, dennoch sollte das gesprochene Wort die Inszenierung tragen. Ein Fehler: Weil die Zuschauer weit weg saßen, verstand man die Sprecher kaum. Die Leipziger Volkszeitung kritisierte: „So verschlang die Weite des Raumes das Wort und das Licht, und man blieb in jeder Beziehung im Dunkeln.“ Viele Zuschauer gingen schon vorm Finale.

Impulse für die Turn- und Sportfeste

Ob das Fiasko ausschlaggebender Grund war, die Massenfestspiele einzustellen, ist nicht überliefert. Aber die Mobilisierung des Sprechchors zum Bewegungssprechchor lieferte Impulse, unter anderem für die DDR-Turn- und Sportfeste, die in Leipzig stattfanden.

Daran wollte vor einigen Jahren im Zentralstadion das Performance-Projekt „Turn!“ erinnern, scheiterte aber an der Zuschauerzahl. Statt den anvisierten 2.000 nahmen nur 150 Menschen teil. Die Macht einer Masse hingegen entfesselte die Gruppe Ligna 2003 im Leipziger Hauptbahnhof. Hunderte verschmolzen zum dezentralen Bewegungschor, der via Radio gesteuert wurde. Sie schlugen an Schaufenster, setzten sich auf den Boden und übten andere im halb öffentlichen Raum untersagte Tätigkeiten aus – ohnmächtig schauten die Sicherheitsleute zu.