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Stumpi erzählt DDR-Fluchtgeschichten

Für die MDR-Doku „Grenzenlos“ sprach Wolfgang Stumph mit Menschen über jenen Moment, der alles in ihrem Leben veränderte.

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Patrick Hanus war Polizeibeamter in Hof. Er half DDR-Übersiedlern. Für seine Dokumentation traf der Schauspieler Wolfgang Stumph Zeitzeugen von Fluchtgeschichten wie Hanus.
Patrick Hanus war Polizeibeamter in Hof. Er half DDR-Übersiedlern. Für seine Dokumentation traf der Schauspieler Wolfgang Stumph Zeitzeugen von Fluchtgeschichten wie Hanus. © MDR/Birte Rauschenberg

Von Sven Heitkamp

Als Lydia mit ihren Eltern vom Ungarn-Urlaub über die Grenze nach Passau flüchtet, setzt sie alles aufs Spiel: Die Vierjährige will mal testen, ob die Zugtür verschlossen ist. Ist sie nicht. Das Mädchen stürzt aus dem fahrenden Waggon bei Tempo 120, fällt in die Dunkelheit und ist erst mal weg – bis Fährtenhunde sie anderthalb Stunden später finden. Die Eltern werden halb wahnsinnig vor Angst, aber ihre Tochter ist zum Glück nur verletzt: Fuß gebrochen, Knie lädiert, Schürfwunden. Heute lebt Lydia Geißler in Passau und arbeitet als freiberufliche Maskenbildnerin für Theater und Fernsehen. Strahlend erzählt sie heute die Geschichte von sich, ihren drei Geschwistern und ihren Eltern, die im Spätsommer 1989 aus der DDR in den Westen flohen.

Es ist nicht der erste dokumentarische Film des Schauspielers Wolfgang Stumph: Schon mit „Go Trabi Go forever“ und „Heimatliebe“ trat er als Dokumentarfilmer auf. Nun hat er sich mit der Regisseurin Jana von Rautenberg 30 Jahre nach dem Herbst des Aufbruchs und des Abschieds auf Spurensuche zu jenen Menschen begeben, die damals aus der erstarrten DDR flüchteten und damit Geschichte schrieben. Die Filmemacher haben tagelang im Archiv der Deutschen Presseagentur dpa nach Fotos gestöbert: von Menschen in Budapest und in der Prager Botschaft, im Bahnhof von Hof und auf der Mauer in Berlin. 

Es sind unvergessliche Bilder, die zu Dokumenten der Zeitgeschichte wurden. Durch Aufrufe in den Medien haben sie schließlich einige Menschen aufgetan, die damals fotografiert wurden und heute bereit waren, ihre sehr persönlichen Ost-West-Geschichten zu erzählen. Warum sind sie gegangen? Wo sind sie angekommen? Wie geht es ihnen? In der 90-minütiugen Dokumentation „GrenzenLos“ kommen sie am Sonntagabend im MDR-Fernsehen zu Wort. Schon jetzt ist der Erkundungsfilm in der Mediathek zu finden.

Rückkehr? Kein Thema!

Erzählt werden berührende Geschichten, die Mut machen. Weil sie Menschen zeigen, die damals ihr Leben auf ihre Weise in die Hand genommen und die Reise ins Unbekannte angetreten haben. Und die diese optimistische Haltung auch bei Schicksalsschlägen im Westen behalten haben: als Alleinerziehende mit einem schwerstbehinderten, pflegebedürftigen Kind, nach Jobverlust mit 50, nach Scheidungen. Familie Geißler lebt heute in Passau. Im Biergarten und auf einem Spielplatz erzählen sie Wolfgang Stumph beschwingt von der Erleichterung, als sie feststellten, dass ihre Tochter den Zug-Sturz überlebt hat. Man sieht eine glückliche Familie. Dass nicht alles so rosig war und ist, wie es scheint, wird bei der Vorab-Vorführung des Films mit Publikum und Protagonisten in Leipzig deutlich: Großvater Seifert meldet sich zu Wort und deutet an, dass hinter einer Flucht viel mehr Aufregung und Probleme liegen, als der Film zeigen kann.

Das ist nicht anders bei Steffi Seifert aus Zeulenroda, die aus der SED geflogen war und ihren Job beim Roten Kreuz verlor. Im August 1989 bricht sie vom Balaton mit ihrer siebenjährigen Tochter Kati auf Richtung Westen. Am Rande eines Hilfslagers entsteht ihr berühmtes Foto: Mutter und Tochter, die im Trabi übernachten. Ein Reporterteam schmuggelt die beiden schließlich im Bulli nach Österreich. In bayerischen Ottobrunn baut sich die Lkw-Fahrerin eine Spedition als Ein-Frau-Unternehmen auf und fährt zwei Millionen Kilometer durch Europa – über viele Grenzen hinweg. Sie sei „richtig Ossi“, sagt Steffi Seifert. Aber Rückkehr? Kein Thema!

Auch für den jungen Sebnitzer Thomas Haase öffnet sich im Herbst 1989 ein Fenster: Er will schon lange aus der sozialistischen Republik entkommen, doch Ausreiseanträge scheiterten. Nun gelingt ihm die Flucht über die Prager Botschaft. Mit ihm reist der gute Kumpel Dirk. Nichtsahnend hatten sie sich getrennt voneinander auf den Weg gemacht und unerwartet in Prag wiedergetroffen. Am Zugfenster in Hof werden sie strahlend und winkend für die Geschichtsbücher fotografiert.

Hilfe in den Zeiten der Flucht

Dank einer westdeutschen Urlaubsbekanntschaft haben beide schon nach vier Tagen Arbeit. Die bittere Pille folgt viele Jahre später: Die Firma des gelernten Maschinenschlossers geht pleite. Doch Thomas Haase wagt nach beinah 30 Jahren wieder einen Neuanfang: Er arbeitet heute in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen.

Wolfgang Stumph und sein Team bleiben nicht im Osten. Im bayerischen Hof treffen sie den einstigen Polizisten Patrick Hanus, der Übersiedlern aus der DDR half. Auch dem hessischen Grenzörtchen Herleshausen statten sie einen Besuch ab. Dort hatten sich an einem Wochenende allein 28.000 Menschen ihre 100 D-Mark Begrüßungsgeld abgeholt. 2,8 Millionen insgesamt. Die Helfer von damals erzählen, wie sie das Geld noch nachts in Plastiktüten aus der Sparkasse ins Rathaus schleppten, sie berichten von Hilfsbereitschaft und Dankbarkeit in Zeiten der Flucht.

Wolfgang Stumph ist oft im Film zu sehen, als stiller Zuhörer der gemütlich-sächsischen Art. Nur zwischen den Stationen lässt der 73-Jährige ab und zu seine eigenen Eindrücke aufblitzen. Er blieb im Herbst 1989 in Dresden, wollte lieber am Putz der Mauer kratzen, statt sie zu überwinden. Und als nächstes Projekt würde er gern einen Film über diejenigen drehen, so sagt er in Leipzig, die damals bewusst dageblieben sind.

GrenzenLos: Sonntag, 29.9., 20.15 Uhr, MDR, ab sofort in der ARD-Mediathek verfügbar.