SZ + Sachsen
Merken

Ärzte behandeln nicht gern im Gefängnis 

In fast allen Justizvollzugsanstalten fehlen Mediziner. Abhilfe schaffen Honorarkräfte. Das Problem lösen sie nicht.

Von Daniel Krüger
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Die medizinische Betreuung „hinter Gittern“ wird in Sachsen immer mehr zum Problem.
Die medizinische Betreuung „hinter Gittern“ wird in Sachsen immer mehr zum Problem. ©  Archiv/Robert Michael

Auch wenn es sich um Menschen handle, die das Gesetz gebrochen haben, so seien es doch letztlich Menschen, schreibt Silvio S. in einem Brief. Schwarzer Kugelschreiber, weißes Din-A4-Papier, schöne Schrift. S. schreibt aus der Zelle. Er ist Häftling der JVA Dresden, diesem großen braunen Block, der Anfang der 2000er-Jahre auf einem ehemaligen Kasernengelände am Rande der Äußeren Neustadt aus dem Boden gestampft wurde. Hier warten in diesem unerträglich heißen Sommer gerade 705 männliche, verurteilte Straftäter hinter Gitterstäben auf die tägliche Hofrunde.

Doch S. muss noch mehr Geduld beweisen. Vor über einem Jahr hat die letzte festangestellte Ärztin die JVA verlassen. Seitdem beschäftigt die Anstalt Mediziner auf Honorarbasis, die neben ihrer Haupttätigkeit die grundlegende Versorgung übernehmen. S., den nach eigener Aussage schon länger Hautprobleme plagen, hat mit starkem Juckreiz und daraus folgenden offenen Wunden zu kämpfen. Doch die schnelle Hilfe, die er sich wünscht, kommt nicht. „Ich habe drei Wochen kaum schlafen können. Als ich dann endlich beim Arzt vorsprechen durfte, wurde ich innerhalb von einer Minute abgefertigt.“

Zwar habe er ein Antibiotikum verschrieben bekommen, doch der Juckreiz bleibe. Ein neuer Termin? Frühestens in einigen Wochen. „Das ist menschenunwürdig. Mit meiner Meinung stehe ich nicht allein da“, so S. Auch Beamte und Arzthelfer litten unter der medizinischen Versorgungslage.

Gesundheit der Insassen gefährdet?

S. Anwalt, der Dresdner Strafverteidiger Martin Boine, teilt die Einschätzung seines Mandanten. „Seit dort keine festangestellten Ärzte mehr arbeiten, höre ich auch von anderen Gefangenen vermehrt Beschwerden“, sagt Boine. Das Problem sei bekannt. Selbst ein Staatsanwalt habe einem Häftling im Beisein des Anwalts schon zu einer Strafanzeige geraten.

Den Vorwurf, die JVA Dresden würde die Gesundheit der Insassen gefährden, möchte Jörn Goeckenjan so natürlich auf keinen Fall gelten lassen. „Die Notversorgung ist immer gewährleistet“, sagt der 49-jährige Anstaltsleiter, ein erfahrener Mann, der zuvor bereits in den JVAs Waldheim und Chemnitz das Sagen hatte. 

Aber auch er verschweigt nicht, dass eine gute medizinische Betreuung wohl anders aussähe. „Wir beschäftigen in Dresden 15 Honorarärzte. Davon sind drei Allgemeinmediziner und zwölf Spezialisten wie eine Internistin, ein Diabetologe und ein Radiologie“, sagt er. Von Montag bis Freitag komme vormittags einer der Hausärzte für einige Stunden in die Anstalt. „Jeden Tag melden sich durchschnittlich 60 Patienten an“, sagt Goeckenjan. Die große Nachfrage überfordert die Ärzte, für die Behandlung bleibt wenig Zeit. Auch die Terminvergabe erfolge „nicht so zügig wie gewünscht“. Weil das kein Dauerzustand sein kann, suchen Goeckenjan und sein Team dringend nach neuen Anstaltsärzten – zweieinhalb Stellen warten auf ihre Besetzung.

Damit steht Dresden nicht alleine da. Bundesweit bleibt in Gefängnissen etwa jede vierte Arztstelle unbesetzt. In Sachsen arbeiten in zehn Justizvollzugsanstalten derzeit elf Anstaltsärzte. „Angemessen wäre, wenn pro 400 Insassen und in jeder JVA mindestens ein Anstaltsarzt zur Verfügung steht“, erklärt Jörg Herold, Pressesprecher im sächsischen Justizministerium. Die Realität sieht anders aus. Statt Stellen zu besetzen, behilft man sich zunehmend mit Honorarärzten. Deren Zahl im sächsischen Vollzug ist von 50 im Jahr 2009 auf jetzt 75 angestiegen.

Der Leiter der JVA Dresden, Jörn Goeckenjan, im medizinischen Bereich der Anstalt. Die Häftlinge werden zur Zeit ausschließlich durch Honorarärzte behandelt. Das kostet die Insassen viele Nerven: Lange Wartezeiten auf Termine sind die Regel.
Der Leiter der JVA Dresden, Jörn Goeckenjan, im medizinischen Bereich der Anstalt. Die Häftlinge werden zur Zeit ausschließlich durch Honorarärzte behandelt. Das kostet die Insassen viele Nerven: Lange Wartezeiten auf Termine sind die Regel. © Thomas Kretschel

Doch warum will kaum ein Mediziner dauerhaft im Gefängnis arbeiten? „Das geht zunächst einmal einher mit dem allgemeinen Ärztemangel“, glaubt Dr. Michael Schulte-Westenberg, Hauptgeschäftsführer der sächsischen Ärztekammer. Gleichzeitig habe der öffentliche Dienst unter Medizinern nicht den besten Ruf. „Man geht davon aus, dass nicht so gut vergütet wird wie in anderen Bereichen.“ Die Ärztekammer verfüge aber über keine validen Zahlen hierzu. 

Christian Wolfram ist Medizinstudent in Leipzig und vertritt die Interessen junger Nachwuchsärzte im Ärzteverband Hartmannbund. „Die meisten Studenten und Assistenzärzte wissen wenig über JVAs, die Option wird kaum berücksichtigt“, sagt der 24-Jährige. Seiner Ansicht nach sind auch Hemmungen und Vorurteile gegenüber der Arbeit im Gefängnis weit verbreitet. „Da fragt man sich: Was herrscht dort für ein Ton und Umgang? Sind die Patienten aggressiv, werden sie gewalttätig?“ Auch die Bezahlung, so der weit verbreitete Glaube, sei deutlich schlechter als in einer Praxis oder Klinik.

Dass für Gefängnisse aber eine Ausnahme im öffentlichen Gesundheitsdienst herrscht, sei kaum bekannt, so JVA-Leiter Goeckenjan. So werden Anstaltsärzte mittlerweile in allen sächsischen Gefängnissen nach dem Tarifvertrag für Ärzte an Universitätskliniken bezahlt. „Wir gruppieren sie sogar zwei Stufen höher ein als an der Uniklinik. Wenn sie die höchste Tarifstufe erreicht haben, erhalten sie noch mal eine monatliche Zulage in Höhe von rund 1.325 Euro“, erklärt Goeckenjan. Zusätzlich werde den Medizinern die Möglichkeit der Verbeamtung in Aussicht gestellt.

Anstalt übernimmt Weiterbildung

Auch Christian Wolfram sieht durchaus viele Vorteile bei der Arbeit als Anstaltsarzt: „Gefängnisse bieten meistens familienfreundliche Arbeitszeiten. Auch mit Abrechnungen muss man sich dort nicht herumschlagen.“ Genau diese Punkte seien es, die laut Studien des Hartmannbunds bei jungen Ärzten eigentlich ganz oben auf der Wunschliste stehen, so Wolfram. „Bei uns gibt es keinen Schicht-, Wochenend- oder Bereitschaftsdienst“, erklärt Goeckenjan. Kernarbeitszeit sei von neun bis 15.30 Uhr. Auch Fort- und Weiterbildungen würden von der Anstalt komplett übernommen.

Angebote, die attraktiv sind, findet Wolfram. „Es müsste viel stärker geworben werden“, findet der Medizinstudent. Auch Vorurteile bezüglich der Sicherheit müssten seiner Ansicht nach durch Aufklärung abgebaut werden. „Seitdem ich 2017 als Leiter in Dresden angefangen habe, gab es keinen einzigen Übergriff auf medizinisches Personal“, sagt Goeckenjan. Die Ärzte seien zudem nie allein und hätten immer ein Funkgerät mit Notfallknopf dabei. „Die Häftlinge sind dankbar und froh über medizinische Hilfe.“ Das bestätigt auch Silvio S.: „Der Schritt in die Öffentlichkeit ist nötig, damit sich etwas ändert.“