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Wie Dresdens Theater in Berlin beeindruckt

Mit dem Stück „Das große Heft“ waren die Dresdner zum Theatertreffen eingeladen. Eine Reportage.

Von Johanna Lemke
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„Das große Heft“ in der Regie von Ulrich Rasche wird in Dresden auch aus Mangel an Zuschauerinteresse abgesetzt. In Berlin feierte es jetzt zwei umjubelte Vorstellungen beim Theatertreffen.
„Das große Heft“ in der Regie von Ulrich Rasche wird in Dresden auch aus Mangel an Zuschauerinteresse abgesetzt. In Berlin feierte es jetzt zwei umjubelte Vorstellungen beim Theatertreffen. © Sebastian Hoppe

Die Erde ist zwei Scheiben. Zumindest dreht sich alles um sie. Wie man diese Scheiben, jeweils zehn Meter Durchmesser, insgesamt zehn Tonnen schwer, von Dresden nach Berlin kriegt, das hat Peter Keune einige Zeit beschäftigt. „Wie Tortenstücke haben wir sie auseinandergenommen“, sagt Keune. Er ist Technischer Direktor des Staatsschauspiels Dresden und trägt damit die Hauptverantwortung dafür, dass „Das große Heft“ beim Berliner Theatertreffen gezeigt werden kann.

In der Bestenauswahl des deutschsprachigen Theaters war Dresden seit 2011 nicht mehr vertreten. In diesem Jahr ist es das dafür gleich zweimal: Neben „Das große Heft“ wurde „Erniedrigte und Beleidigte“ zum Theatertreffen eingeladen und dort vergangene Woche gezeigt. Dabei sei der technische Aufwand aber marginal gewesen, sagt Peter Keune: „Das passte alles auf einen Lkw“. Für „Heft“, wie Keune sagt – im Theater kürzt man die Titel der Produktionen grundsätzlich ab – brauchte es ganze drei Sattelaufleger. Die Bühne wiegt zehn Tonnen, in drei Schichten musste er seine Techniker einsetzen, um die Scheiben in Dresden ab- und in Berlin wieder aufzubauen. Peter Keunes Familie wohnt in der Hauptstadt, gesehen hat er sie dieser Tage jedoch kaum, weil er ständig im Haus der Berliner Festspiele zu tun hat.

Hier in Berlin Wilmersdorf ist die Hauptbühne des Theatertreffens, das seit dem 3. Mai läuft. Und hier konnten seit Tagen gar keine anderen Vorstellungen des Festivals gezeigt werden – weil auf der Bühne eben jene Drehscheiben installiert wurden. Die Dresdner Produktionsleiterin Charlotte Keck sagt: „Als alles fertig war und die Bühne sich wirklich drehte, als Elektrik und Ton funktionierten, da ist uns schon ein Stein vom Herzen gefallen.“

Es ist Sonnabendvormittag, ein Tag vor der ersten der zwei Berliner Aufführungen von „Das große Heft“. Tags zuvor haben die 16 Schauspieler ihre Chortexte geübt, jetzt betreten sie zum ersten Mal die Bühne. Musiker spielen sich ein, Techniker laufen durch den Raum. Knarzend setzen sich die Scheiben in Bewegung. Ein Darsteller hüpft behände darauf und beginnt, in den Trott des Laufens zu kommen, der die Inszenierung so eindringlich macht: Die Schauspieler werden über knapp vier Stunden nicht aufhören, auf den ständig rotierenden Scheiben zu gehen.

Im Saal wird es dunkel, das Bühnenlicht geht an, die Probe der Szene, die im Ablaufplan „Hasenscharte“ heißt, beginnt. Nicht lange lässt der Regisseur es laufen. „Stopp!“ ruft Ulrich Rasche. Die vielen Lichtquellen im Saal stören ihn: Notausgänge, Lampen für die Musiker, außerdem gibt es beim Theatertreffen Übertitelungen in englischer Sprache, die an die Seitenwände gebeamt werden. „Die Lichtquellen lenken den Fokus von der Bühne“, ruft Ulrich Rasche, „kann sich da mal jemand drum kümmern?“ Zwischen den Szenen springt er auf die Bühne, bespricht mit den Schauspielern Abläufe oder fragt sie, warum sie „nicht in das Entsetzen hineingekommen“ sind. „Perfektionist“ nennen die Schauspieler den Regisseur.

Als Maschinentheater bezeichnen manche die Inszenierungen von Ulrich Rasche, und das ist nicht immer nur nett gemeint. In allen seiner Arbeiten brachte der Regisseur Drehscheiben zum Einsatz, die stark die Energie der Inszenierung vorgeben. Immer gibt es Nebel, Chöre, monumentale Ästhetik. In „Das große Heft“ nach dem Roman von Ágota Kristóf dienen diese Mittel dazu, das Entsetzen des Krieges spürbar zu machen, die Verrohung der Menschen, das Leid zweier Jungen, deren Worte von allen 16 Schauspielern gesprochen, geschrien, gekeucht werden. Mehrere sind Gastschauspieler. 

Zum Dresdner Ensemble gehören zum Beispiel Moritz Kienemann und Jannik Hinsch. Eben noch standen sie auf der Bühne und probten eine chorische Passage. Jetzt blinzeln sie auf der Terrasse des Hauses der Berliner Festspiele in die Maisonne und sehen so blass aus, wie nur Menschen aussehen, die ganze Tage in Räumen ohne Tageslicht verbringen. Kienemann hat sich gerade eine Zigarette geschlaucht, seine Hosenbeine hat er hochgekrempelt. „Es läuft gut“, sagt er, „ich bin gar nicht so aufgeregt, sondern habe Lust, den Raum zu erobern.“ Der Raum hier klinge „trockener“ als der im Dresdner Theater, der Schall wird mehr reflektiert an den Holzpaneelen. So etwas ist entscheidend für eine Inszenierung, in der permanent laute Musik läuft und die Schauspieler mit Mikros verstärkt werden. Auf der Probe hatte Jannik Hinsch geklagt, dass ihm der Bass über den Kopfhörer zu sehr ins Ohr donnere.

© Sebastian Hoppe

Es ist 14 Uhr in Berlin, die Probe ist für heute vorbei. Zwei Darsteller sind gerade in den Flieger nach München gestiegen, sie spielen dort heute die letzte Vorstellung von Rasches „Die Räuber“ und fliegen morgen zurück nach Berlin. Die hohe Anzahl der Gastschauspieler habe auch dazu geführt, dass „Das große Heft“ in der kommenden Dresdner Spielzeit nicht mehr gezeigt werde – es sei sehr teuer und extrem aufwendig, jedes Mal die vielen Gäste herzuholen, so die offizielle Begründung. Man hört allerdings, dass es noch einen weiteren Grund gibt: das mangelnde Interesse der Zuschauer in der Heimspielstätte. Es ist paradox, aber die Dresdner Inszenierung, die von außen mit Abstand am stärksten wahrgenommen wird, füllt zu Hause nicht genügend die Reihen.

Und so sind die Vorstellungen beim Berliner Theatertreffen auch so etwas wie eine Leistungsschau Dresdens kurz bevor „Das große Heft“ im Juni abgespielt wird. Bass wummert durch den Saal. Es knarzt – und die Scheiben beginnen sich zu drehen. Zwei junge Männer marschieren die Scheibe hinauf. Es sind Moritz Kienemann und Johannes Nussbaum, der in diesem Jahr mit dem Darstellerpreis des Theatertreffens ausgezeichnet werden wird. 

Waren die beiden in der Premiere vor anderthalb Jahren noch als Hauptcharaktere zu erkennen, hat sich die Inszenierung nun verändert. Alle Darsteller zeigen jetzt viel mehr eigenes Spiel, suchen ihren Charakter in der Monotonie. Eventuell wirkt die Inszenierung dadurch weniger perfekt, aber auch weniger glatt als noch vor Monaten. Im Laufe des Abends werden die Chöre wütender, nimmt die Kraft zu. Als hätte jeder Einzelne sich vorgenommen, auch noch die letzte Holzpaneele im Saal zum Schwingen zu bringen. Und: Die Übertitel leuchten über der Bühne, nicht mehr an den Seiten und stören kaum.

„Grässlich!“ ruft ein Zuschauer vor der Pause, er kommt danach nicht wieder. Am Ende steht ein jubelnder Schlussapplaus für das Dresdner Gastspiel in Berlin.

Die letzte Vorstellung von „Das große Heft“ findet am 29.6. um 19 Uhr im Staatsschauspiel Dresden statt. Karten: Tel. 0351 4913555