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Zehn Minuten Depression

Fußballprofi Robert Enke nahm sich 2009 das Leben. Eine Stiftung unter Leitung seiner Witwe will über die Krankheit aufklären. SZ-Redakteur Tilo Berger machte den Selbsttest.

Von Tilo Berger
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SZ-Redakteur Tilo Berger lässt sich von VR-Brille und Kopfhörern in die Gefühlswelt eines Depressiven versetzen. Den Selbsttest ermöglichte die Robert-Enke-Stiftung. Sie hat es sich zum Ziel gemacht, über die Krankheit Depression aufzuklären und Behandlun
SZ-Redakteur Tilo Berger lässt sich von VR-Brille und Kopfhörern in die Gefühlswelt eines Depressiven versetzen. Den Selbsttest ermöglichte die Robert-Enke-Stiftung. Sie hat es sich zum Ziel gemacht, über die Krankheit Depression aufzuklären und Behandlun © SZ/Uwe Soeder

Natürlich weiß ich, zumal als Fußballfan, wer Robert Enke war und dass er an Depression gestorben ist. Und natürlich glaubte ich zu wissen, was Depression bedeutet. Das Wort kommt uns ja schnell mal über die Lippen. „Sei doch nicht gleich so depressiv“, sagen wir fix, wenn jemand in unserer Nähe mal einen schlechten Tag erwischt hat. „Das macht mich depressiv“, steht sofort fest, wenn der Lieblingsverein verloren hat, die Lottozahlen so gar nicht den getippten gleichen, im Fernsehen nur Wiederholungen laufen und zu allem Unglück draußen grad Nebel heraufzieht – wenn also wieder mal alles zusammenzukommen scheint.

Aber leiden wir da schon unter der Krankheit Depression? Wie macht diese sich überhaupt bemerkbar? Das Gedächtnis ruft den Namen Robert Enke, geboren 1977 in Jena. Er hütete das Tor bei deutschen, portugiesischen und spanischen Fußballvereinen. Achtmal stand er im Kasten der deutschen Nationalmannschaft. Wie es tief in ihm aussah, wusste niemand. Aber alle erschraken, nachdem Robert Enke im November 2009 auf einem Bahnübergang in Niedersachsen seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Mit gerade mal 32 Jahren. Todesursache: Depression. Robert Enke, eine Selbstverständlichkeit des Fußballs, war auf einmal nicht mehr.

Stiftung startete mit 150.000 Euro

Nach seinem Tod gründeten der Deutsche Fußball-Bund, die Deutsche Fußball-Liga und Robert Enkes letzter Verein Hannover 96 eine gemeinsame Stiftung und statteten sie mit 150.000 Euro aus. Vorstandsvorsitzende ist vom ersten Tage an Witwe Teresa. „Depression ist keine Schwäche, sondern eine heilbare Krankheit“, betont sie immer wieder. Die Robert-Enke-Stiftung will diese tückische Krankheit erforschen, ihre Behandlung unterstützen, vor allem aber möglichst viele Menschen informieren und aufklären. Seit Kurzem mit dem virtuellen Projekt „Impression – Depression“. Dabei versetzt eine sogenannte VR-Brille Nicht-Kranke für etwa zehn Minuten in die Welt eines Depressiven.

Einen Tag lang machte das Projekt Station in Bautzen. Ich habe mich gleich für den ersten Durchgang um 9 Uhr angemeldet. Felicitas Löffelmann von der Robert-Enke-Stiftung reicht mir ein Merkblatt. Ich unterschreibe, dass ich selbst nicht depressiv krank war oder bin. Dann bittet sie mich hinter eine spanische Wand, wo zwölf Stühle stehen. Neun davon bleiben um diese Stunde noch leer, was sich im Lauf des Tages ändert. Neben mir sitzt Sophie Erler vom sozialpsychiatrischen Dienst des Landratsamtes Bautzen. Ein Beratungs- und Betreuungsangebot, das ich bis dahin noch gar nicht kannte. Und das wahrscheinlich viele nicht kennen. Auf dem dritten besetzten Stuhl sitzt ein Mann, der nach eigener Aussage für die Bundeswehr in Afghanistan war. Er wird wissen, warum er bei „Impression – Depression“ mitmacht.

Die meisten Suizide durch Depression

Alexander Hessel von der Robert-Enke-Stiftung zeigt einen kurzen Film über die Krankheit. Wir erfahren, dass jeder fünfte Deutsche mindestens einmal im Leben an einer Depression leidet. 5,2 Millionen Menschen sind im Durchschnitt eines Jahres in Deutschland von der Krankheit betroffen. Statistisch gesehen, fällt jeder daran Erkrankte 64 Arbeitsage im Jahr aus – das summiert sich zu einem volkswirtschaftlichen Schaden von bis zu 22 Milliarden Euro. Und die schlimmste Botschaft des kurzen Films: Etwa 15 Prozent der schwer Depressiven nehmen sich das Leben. Jährlich sterben in Deutschland rund 10.000 Menschen durch Suizid. Das sind mehr, als durch Verkehrsunfälle, Drogen oder Aids ums Leben kommen. Die meisten davon litten vorher unter einer Depression.

Mit diesem Wissen im Kopf bittet uns Alexander Hessel in den hinteren Teil des Raums. Dort stehen zwei Reihen Hocker nebeneinander. Auf jedem liegen die VR-Brille und ein paar Kopfhörer. Aber was sollen wir mit der Bleiweste neben jedem Hocker? „Die verdeutlicht die Schwere, die als Depressiver auf ihren Schultern lastet“, erklärt Alexander Hessel und hilft einem nach dem anderen in die Weste. Die zehn Kilogramm ziehen ganz schön runter. Sophie Erler und ich lächeln uns gequält zu, nur der ehemalige Bundeswehrsoldat zuckt mit keiner Wimper.

Wenn es jetzt zu schlimm werden sollte, können wir jederzeit abbrechen, sagt Alexander Hessel noch. Dann, unter Brille und Kopfhörern, ist da zunächst nichts als Leere und Stille. Die virtuelle Realität beginnt damit, dass ich mich entscheiden soll: Möchte ich einem Leistungssportler nachfühlen oder eine Alltagssituation erleben? Meine Augen sollen das entsprechende Wort anvisieren, ich entscheide mich für den Alltag.

Robert Enke war Torhüter bei Hannover 96. Das Foto entstand wenige Monate vor seinem Selbstmord wegen Depression. 
Robert Enke war Torhüter bei Hannover 96. Das Foto entstand wenige Monate vor seinem Selbstmord wegen Depression.  © dpa

Und da geht es auch schon los. Ich finde mich in einem spärlich beleuchteten Zimmer wieder. Hier müsste dringend aufgeräumt werden. Aber, sagt eine Stimme, die für mich ein Selbstgespräch führt: Ich kann mich mal wieder nicht aufraffen. Ich müsste jetzt aufstehen, aber ich kann es nicht. Ich kann überhaupt nichts. Ich bin ein Versager. Ich war schon immer ein Versager. „In mir“, sagt die Stimme, „ist alles leer.“ Für meine Mitmenschen bin ich nur noch eine Belastung.

Bin ich nicht. Die Brille zeigt mir eine Handy-Nachricht von den Kollegen. Sie lassen mich wissen, dass sie an mich denken. Und ich das auskurieren soll. Zum Glück reagieren sie so. Sie könnten mich auch darin bestärken, ein Versager zu sein. Nichts Gescheites zustande zu bringen. Ich soll mir für die Genesung alle Zeit der Welt nehmen, schreiben die Kollegen. Aber kann ich das noch? „Ich bin so mutlos“, sagt die Stimme. Plötzlich ein Lichtblick. Eine andere Stimme von außen sagt mir, ich solle jetzt an etwas Schönes denken, das ich in den vergangenen zwei Wochen erlebt habe. Ich denke daran, wie ich auf einem Weinberg bei Meißen stand und hinüber schaute auf die Stadt, in der ich vor gut 58 Jahren geboren wurde. Der Absturz nach dem lichten Moment erscheint mir bodenlos. Das unaufgeräumte Zimmer verschwindet in der Versenkung, dafür kommen alle Wände dunkel auf mich zu, der Raum um mich herum wird immer enger. Kann ich überhaupt noch atmen? Auf meinen Schultern scheint ein ganzes Haus zu lasten.

Wir denken viel zu selten an Schönes!

Was für eine Befreiung, als ich Kopfhörer und VR-Brille abnehmen darf! Die Bleiweste rutscht wie von selbst von den Schultern. „Geht es Ihnen gut?“, fragt der junge Mann von der Robert-Enke-Stifung. Na ja. Er bittet uns in einen dritten abgeschirmten Bereich des Raumes. Hier empfangen uns bunte Bilder schöner Landschaften. Wir denken viel zu selten an Schönes! Alexander Hessel möchte das Erlebte mit uns auswerten. Ja, es waren im wahrsten Sinne des Wortes bedrückende zehn Minuten unter Brille und Kopfhörern. Zehn Minuten gefühlte Depression reichen völlig aus. Und sollte wirklich mal eine richtige drohen, werde ich bei den ersten Anzeichen Hilfe suchen. Wo ich die finde, was zu tun ist, weiß Sophie Erler von der Gesundheitsbehörde des Landratesamtes.

Es ist inzwischen kurz vor zehn Uhr, an der Tür warten die Teilnehmer des nächsten Durchgangs. Draußen lugt die Sonne durch die dicken Wolken. Ich glaube, sie sah noch nie schöner aus.

www.robert-enke-stiftung.de

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