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Der Erfolg der AfD und wie man damit fertig wird. Ein Expertengespräch 

Die Leipziger Politikwissenschaftlerin Rebecca Pates sagt: Zuhören kann in einer Demokratie nicht heißen, sich vereinnahmen zu lassen. Aber es ist ein Anfang .

Von Annette Binninger
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Wie sollte man mit der AfD umgehen?
Wie sollte man mit der AfD umgehen? ©  dpa

Frau Pates, die AfD liegt knapp ein Jahr vor der nächsten Landtagswahl in Sachsen Umfragen zufolge nur wenige Prozentpunkte hinter der CDU. Doch die Volksparteien scheinen noch immer weithin erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.

Wir haben eine Reihe an politischen und ökonomischen Problemen in Sachsen, für welche die Landes- und Bundes-CDU verantwortlich gemacht wird. Außerdem fühlen sich viele von der Politik nicht gehört. Die mangelnde oder gering honorierte Arbeit, fehlende Busse, geschlossene Schulen, weggezogene Familien und die neue Einsamkeit auf dem Lande. Sogar die Wölfe kommen zurück. Das interessiert bisher wenige Politiker in Dresden oder Berlin. Es ist ein weit verbreitetes Gefühl, dass sich Menschen mit Sorgen um ihre Kinder und ihre eigene Zukunft nicht repräsentiert, ja abgespeist sehen. Die AfD hat sich rasch des Themas Wölfe angenommen – damit ist sie nah an den Menschen dran.

Und wie sollen die Volksparteien damit umgehen?

Ministerpräsident Michael Kretschmer zeigt mit seinen Bürgergesprächen, dass die Landesregierung den Vorwurf der mangelnden Aufmerksamkeit der sächsischen Politik erkannt hat und sich der Sache annimmt.

Also doch der Appell, die Sorgen und Nöte der Menschen ernst zu nehmen?

Der Versuch, auf das stark verbreitete Gefühl „Die da oben hören uns ja nicht zu“ einzugehen und mit den Leuten zu reden, ist richtig. Auch Wirtschaftsminister Martin Dulig, der sich zum Ostbeauftragten der SPD hat ernennen lassen, will das Gefühl vermitteln, den Ostdeutschen zuzuhören und auf ihre speziellen Bedürfnisse zu reagieren. Das heißt nicht, den Rest der Bevölkerung mit ihren Rechten und Interessen nicht auch ernst zu nehmen – Zuhören kann in einer Demokratie nicht heißen, sich vereinnahmen zu lassen. Aber es ist ein Anfang.

Politikwissenschafterlin Rebecca Pates 
Politikwissenschafterlin Rebecca Pates  © Christian Hüller

Aber reicht das als Strategie gegen die wachsende Zustimmung für die AfD?

Die Strategie der AfD ist klar, sie bedient eine Art von Affektpolitik. Sie setzt gezielt bei den entfremdeten Bevölkerungsteilen an – und diese gibt es im Osten ja in höherem Maße. Denn hier haben wir Probleme, welche systemischer sind als im Westen. Aber sie werden nicht systematisch angegangen. Das führt zu berechtigtem Unmut.

Welche Probleme meinen Sie zum Beispiel?

Das fängt mit den ungewöhnlich niedrigen Einkommen an, wir haben hier ein Problem mit nicht-tarifgebundenen Löhnen. Leipzig ist deswegen seit 26 Jahren fast durchgehend Armutshauptstadt Deutschlands. Diese niedrigen Einkommen ziehen niedrige Renten nach sich. Zwar sinkt auch hier die Arbeitslosigkeit, aber die Leute bleiben arm. Zudem haben wir eine Deindustrialisierung in der Fläche wie sie im Westen auch punktuell auftritt, aber bei weitem nicht so flächendeckend ist. Dann kommt eine Vermögensungleichheit noch dazu: Wie Gleichstellungsministerin Petra Köpping in ihrem Buch betont, brachte die Wende eine dramatische Vermögensumverteilung von Ost nach West mit sich. Auch jetzt sind überdurchschnittlich viele Immobilien in Sachsen in den Händen von Westdeutschen. Wir haben hier also eine starke Einkommensarmut gekoppelt mit sehr geringen Vermögen – das alles wird quasi vererbt. Wenn die Bundespolitik so tut, als gäbe es den Osten nicht mehr, übersieht sie solche systemischen Unterschiede.

Das sind aber nicht alles Probleme, die nur der Staat lösen kann.

Der Staat könnte schon einiges tun. Wir brauchen hier einen stärkeren Wirtschaftssektor, mehr Ansiedlungen im Hochleistungsbereich. Nur so werden wir auch die jungen Leute wieder in dieser Region halten oder sie sogar wieder zurückholen können. Wir brauchen eine stärkere Politik für die einzelnen Regionen und ihre Bedürfnisse. Das verkauft die CSU übrigens als „Heimatpolitik“. Aber imgrunde geht es vielfach schlicht um Infrastruktur – Internet, Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln, aber eben auch Wolfsmanagement. Das wird nicht alle Probleme lösen, aber einiges kann man zumindest angehen oder zumindest mit den Leuten vor Ort gemeinsam Lösungen suchen. Dazu gehört auch eine kluge vernünftige Schul- und Bildungspolitik. Wie viele Jahre hat es gedauert, bis in Sachsen auf die gravierenden und lange bekannten Misstände an den Schulen reagiert worden ist?

Ein CDU-Politiker sagte kürzlich in einem Nebensatz, dass daran auch die Flüchtlinge schuld seien…

Das hätte ich eher von der AfD erwartet. Denn die Verkürzung von komplexen politischen Fragen auf einfache Antworten – die Migranten seien Schuld an allem – ist ja eine rechtskonservative Strategie. Weder Migranten noch Geflüchtete sind Schuld an fehlenden Bussen oder zurückkehrenden Wölfen. Aber wenn wir genau hinhören – das tun wir in unserem Forschungsprojekt „Fremde im eigenen Land?“ – , sehen wir, dass es bei den Ressentiments gegen Geflüchtete auch um soziale Verteilungsfragen geht.

...weil man so stolz auf die eigene Sparpolitik war.

Da in Sachsen so viele Jahre die politischen Forderungen der Bürger mit dem Verweis auf die Schwarze Null abgetan wurden, wundert es einige Bürger 2015 dann doch, dass plötzlich Geld da ist, wenn es um Infrastruktur für Geflüchtete geht. So schafft sich die Politik ihre eigenen Probleme. Sie stehen 2015 als Lügner da. Oder zumindest als Leute, welche die sächsischen Probleme nicht mit genug Verve angehen. Geld ist ja da – aber eben nicht für die Sachsen auf dem Lande. Das ist die eine Sache. Die andere ist natürlich auch, dass es in Sachsen wie überall auch rassistische und ausländerfeindliche Ressentiments gibt – die gibt es jedoch in allen Demokratien, und es ist wichtig, dass sich demokratische Parteien nicht diesen Ressentiments verschreiben. Über Verteilung von Mitteln für Infrastruktur lässt sich in einer Demokratie streiten, über Rassismus, Islam- und Migrationsfeindlichkeit nicht. Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Ist die Flüchtlings-Thematik zuviel, zu wenig oder zu spät diskutiert worden?

Wir haben im Grunde in Deutschland eine ganz lange Tradition, Zugezogene als Problem zu sehen. Vielleicht sollten wir uns mal daran erinnern: 1989 und 1990 hatten wir auch eine Krise, als Hunderttausende von Ostdeutschen gleichzeitig in den Westen zogen, gleichzeitig Jugoslawien zerbrach und auch von dort viele nach Deutschland flüchteten. Damals kamen zudem viele Deutsche aus Russland, Polen und ganz Osteuropa nach Deutschland. Im Rückblick, fast 30 Jahre später, sehen wir das gelassener. Migranten, wenn sie neu da sind, werden oft als bedrohlicher wahrgenommen, als sie sind. Und wenn wir über soziale Verwerfungen und wirtschaftliche Probleme nicht reden wollen, dann sprechen wir eben über Zugezogene, das ist immer einfacher: auf Akteure statt auf Strukturen zu schauen.

Also: zuviel über Flüchtlinge geredet, zu wenig getan?

Ich halte diese Thematik also für überbewertet – bei allem Verständnis für bestehende Probleme. Aber ich würde gemäßigten Politikern dringend raten, sehr viel gelassener auf diese Problematisierung von Flüchtlingen zu reagieren, und eher über die strukturellen Probleme zu sprechen: Armut, Infrastruktur, Gerechtigkeit. Rassismus hingegen lässt sich nicht verbieten, aber wir sollten ihm auch keinen Raum geben, schon gar keinen politischen.

Auch in Sachsen versucht mancher Vertreter der Volksparteien, das Vorgehen und die Attacken der AfD zu imitieren.

Was die AfD strategisch geschickt macht, ist, sich als „Alternative“ darzustellen gegenüber den Parteien, die anscheinend die politischen und sozialen Probleme Sachsens nicht gelöst haben. Es gibt ein Bedürfnis in der Bevölkerung nach Alternativen. Das heißt ja nicht, dass die AfD gewählt wird, weil die Alternative, die sie vorschlägt, als gute Alternative gilt. Sondern sie wird auch aus symbolpolitischen Gründen gewählt, weil viele Menschen glauben, dass dort ihre Ängste wenigstens ernstgenommen werden und sie es so den etablierten Parteien mal zeigen können.

Da ist es verlockend für einige Vertreter von Volksparteien, die AfD in Vorgehen und Redensweise zu imitieren.

Die CDU auch in Sachsen versucht zuweilen, die Problematik ähnlich darzustellen wie die AfD – und das nochmal zugespitzt. Allerdings: Sie sitzt in der Regierung. Und damit hat das, was sie sagt gegen Flüchtlinge eine ganz andere Wirkung. Ich halte das für eine absolut fatale Strategie. Denn nach meiner Analyse sind Migranten nicht das Problem. Zuzulassen, dass alles auf sie geschoben wird, wird weder die Probleme der Infrastruktur lösen noch diese Affekt-Situation beenden.

Seit etwas mehr als einem Jahr befindet sich die CDU hier in Sachsen in einer Art „Reparaturmodus“. Das heißt, sie versucht, Versäumtes etwa im Bereich der Schulen nachzuholen oder Weichen etwa bei der Inneren Sicherheit neu zu stellen. Reicht das, um der AfD etwas entgegenzusetzen?

Es war ein Fehler, ausgerechnet bei der Inneren Sicherheit und der Bildung – also bei Kernkompetenzen der CDU – soviel wegzusparen. Das hat mit einer konservativen Fiskalpolitik zu tun, aber auch mit dem Wunsch nach Abbau des Staates – fatalerweise gerade in der Fläche, wo er eigentlich präsent sein sollte. Die CDU muss das reparieren, um wieder eine tragfähige Partei zu werden. Es ist die richtige Strategie von Regierungschef Kretschmer, die CDU als eine Art „Reparaturpartei“ darzustellen, die sich auch um die Belange vor Ort kümmert, und zwar sowohl im Bürgergespräch als auch, indem der Osten in Berlin besser repräsentiert wird. Entfremdungsgefühle, Enttäuschung und Misstrauen in die Politik lassen sich allerdings nicht so leicht aus der Welt schaffen.

Der Ministerpräsident beklagt oft die schlechte Stimmung im Land und wünscht sich fröhlichere Landsleute. Die AfD scheint von dieser schlechten Stimmung aber weiter zu profitieren.

Es ist ja durchaus etwas Lustvolles dabei, über alles zu meckern. Das hat auch etwas Verbindendes, wenn man sich mit anderen darüber einig ist, dass alles schlecht ist. Das Meckern macht also Spaß, und hat dazu noch eine sozial bindende Funktion.

Die sonst offenbar weithin verlorengegangen ist...

Wo kann es denn noch herkommen, unser Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsgefühl? Die Kirchen und die Gewerkschaften haben hier nicht allzuviel Bindungskraft. Die großen bindenden Organisationsformen des Westens fehlen uns also, der öffentliche Raum wird immer weiter zurückgedrängt. Der Rückzug ins Private geht weiter. Es gibt mehr Entertainment zuhause oder über Facebook und private Netzwerke.

Was kann da helfen?

Patentlösungen gibt es da nicht. Aber eines wäre für mich zum Beispiel: das gemeinsam Errungene durch die einzige friedliche, die einzig erfolgreiche demokratische Revolution in der deutschen Geschichte. Das gälte es, gemeinsam zu feiern.

Aber die negativen Affekte gehen dadurch nicht weg.

Man muss natürlich die Gründe für all diese negativen Affekte angehen, also die Armut, die Infrastruktur, die Einsamkeit, die Wölfe und das nicht gehört werden. Man könnte aber auch Gelegenheiten für positive Affekte bieten und den Menschen auch die Möglichkeit geben, den öffentlichen Raum wieder als ihren Raum zu erfassen. Das hat auch etwas mit Versammlungen zu tun. So, wie das Kretschmer auch versucht. Wenn es um eine Abwehrstrategie geht, dann erscheint mir das als das eine sinnvolle.

Welche Rolle kann und sollte dabei die bürgerliche Gesellschaft spielen? Ist sie, wie viele immer wieder beklagen, immer noch zu passiv?

Das Problem, wir haben weniger öffentliche Räume, heißt, die Gelegenheit zur Artikulation von Werten und zum Üben von zivilen Auseinandersetzungen fehlt. Und wir haben auch durch den starken Wegzug vieler junger, gebildeter Ostdeutscher Anfang der Neunziger Jahre und bis heute auch weniger Menschen gerade in den kleineren Kommunen und im ländlichen Raum, die mäßigend und mutig eingreifen könnten in politische Debatten. Die auch treibend dafür sein könnten, dass soziale Events für junge Leute stattfinden. Das ist ein Grund, warum in Sachsen bestimmte Entwicklungen und Äußerungen so schnell besonders extrem ausfallen. Viele sind einfach nicht mehr da, die sich getraut hätten, auch mal gegenzuhalten und zur Mäßigung zu mahnen. Eine Strategie muss darum sein, die Leute zu ermutigen zurückzukehren, ihnen dort hier auch Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten zu geben, eben nicht Schulen zu schließen, sondern Wissen und Bildung zu stärken vor Ort.

Rückt Sachsen durch das, was sich hier abspielt, gesellschaftlich und politisch unvermeidbar weiter nach Rechts?

Wenn die Entwicklung, die wir derzeit erleben, sich so fortsetzt, dann wird das so kommen.

Glauben Sie, dass die AfD das Potenzial hat, im kommenden Jahr in Sachsen stärkste Kraft zu werden?

Ich tendiere dazu, das eher zu verneinen. Aber Wissenschaftler eignen sich nicht gut für Prognosen. Ich habe weder den Brexit noch die Wahl Trumps vorhergesehen. Die CDU droht aber in eine schwierige Situation zu kommen. Wenn das Wahlergebnis am 1. September 2019 so ausfallen sollte, wie es Prognosen derzeit sehen, dann könnte sie eventuell doch noch in die Lage kommen, sich von ihrer Koalitionsabsage an Linkspartei oder AfD distanzieren zu müssen, um nicht in eine Unregierbarkeit zu fallen.