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Zum Lächeln erweckt

Demenzkranke sind in sich gekehrt, leben in ihrer eigenen Welt. Doch manchmal reicht eine Zeile und sie sind hellwach. 

Von Henry Berndt
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Ein paar gereimte Zeilen, und schon weckt Lars Ruppel (rechts) in den Bewohnern der Seniorenresidenz Bürgerwiese ungeahnte Talente.
Ein paar gereimte Zeilen, und schon weckt Lars Ruppel (rechts) in den Bewohnern der Seniorenresidenz Bürgerwiese ungeahnte Talente. © Christian Juppe

Regungslos hängt die ältere Dame in ihrem Rollstuhl. Ihr Blick geht ins Leere, ihr Gesicht ist erstarrt. Und dann hallt da diese eine Zeile durch den Raum: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.“ Plötzlich wird ihr Blick ganz klar, ihre Augenbrauen tanzen. Die Frau spricht mit. Erst leise, dann immer lauter: „...dass ich so traurig bin; ein Märchen aus alten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn.“

Es ist einer dieser Momente, für die Lars Ruppel an diesem Dienstagvormittag in die Seniorenresidenz Bürgerwiese gekommen ist. Der Lyriker will die Heimbewohner mit Gedichten wecken. Und das nicht allein. Schüler des benachbarten Gymnasiums werden ihm helfen.

Auch Schüler machen beim Erwecken mit

Doch wie kann das funktionieren? Betont laut und langsam sprechen – das ist eine dieser Grundregeln, die man verinnerlichen sollte, bevor man betagte Menschen mit Poesie erfreuen möchte. Die Elftklässler des Leistungskurses Deutsch haben verstanden. Sie wissen, dass sie den Senioren ihre Hand anbieten, aber nicht aufdrängen sollten, und sie kennen den einzigen Spruch zur Selbstmotivation, der garantiert immer funktioniert: „Ich bin müde, ich bin ein Pinguin, ich kann gar nichts.“ Das behauptet zumindest Ruppel, der mit seinem Projekt „Weckworte“ schon seit 2009 durchs ganze Land tourt. Vor vier Jahren gewann er in Dresden die Deutsche Meisterschaft der Poetry Slammer und gehört inzwischen zu den bekanntesten Vertretern seiner Zunft.

Normalerweise richtet sich Ruppels Projekt vor allem als Weiterbildung an Fachpersonal, aber auch Schülergruppen bekommen regelmäßig die Chance, an einem Erweckungserlebnis teilzuhaben.

In Dresden ermöglichte nun das Demenzschulungsprojekt der Landeshauptstadt das hier bislang einmalige Aufeinandertreffen. Einige Tage zuvor erfuhren die Schüler von den Experten des Dresdner Pflege- und Betreuungsvereins schon eine Menge über das Krankheitsbild Demenz. Am Dienstag nun machten sie Bekanntschaft mit jenem Lars Ruppel, der mit seiner Poesie-Euphorie schnell jeden in seinen Bann zu ziehen vermag.

Als ein Senior blitzeschnelle...

Michelle wird „Morgenwonne“ von Joachim Ringelnatz rezitieren, Luis die Liebesbotschaft „Was es ist“ von Erich Fried und Berit wird mit Worten das Schlaraffenland bereisen. Ungeduldig warten einige Bewohner des Pflegeheims bereits vor der Tür der Bibliothek. Drinnen in den Bücherregalen finden sie normalerweise die Sissy-Romane und Brehms Tierleben. Heute aber treffen sie hier auf eine Reihe junger Leute, die sie poetisch erwecken wollen.

Kurz darauf sitzen Alt und Jung Seite an Seite im Kreis. Mühelos bricht Lars Ruppel das Eis mit Erichs Kästners Reh, das bekanntlich hoch und weit springt, weil es ja Zeit hat. Gleich danach der nächste Klassiker: „Dunkel war’s, der Mond schien helle“. Schon nach der ersten Zeile stimmen vier oder fünf der Senioren mit ein und sprechen das Gedicht fast allein weiter. Da staunt so mancher Schüler. Von nun an überlässt Ruppel immer wieder dem Nachwuchs die Bühne. Michelle beginnt mit etwas „Poesiegymnastik“ im Sitzen – und fast alle im Raum machen ihre Bewegungen bereitwillig nach. „Hammer denn bestanden?“, fragt danach eine ältere Dame. Sie war selbst mal Lehrerin, wie sich herausstellt. Ruppel gibt eine 2 plus, und die Dame ist zufrieden.

Überwältigt von der Stimmung

Immer wieder gehen Ruppel und einzelne Schüler nun im Kreis, knien sich sacht vor die Senioren und reichen ihnen die Hand. Das lässt niemanden kalt. Die meisten lächeln. Ein Herr hebt gar jedes mal kurz seinen Po und bedankt sich. Als Ruppel den Senioren schließlich den Tucholsky-Klassiker „Hast uns Stulln jeschnitten un Kaffe jekocht... alles mit deine Hände“ mit auf den Weg gibt, haben nicht nur die Heimbewohner Tränen in den Augen. Ganz zum Schluss wedelt auch die letzte betagte Dame zu „Über den Wolken“ rhythmisch mit den Armen. Spätestens jetzt ist auch Sandrine Augustin vom Dresdner Pflege- und Betreuungsverein von der Stimmung überwältigt.

„Es war ein Experiment und ich glaubte, alle Beteiligten werden aus dieser Begegnung viel mitnehmen“, sagt sie danach. „Wir würden uns freuen, wenn wir künftig noch mehr Schülern den Zugang zu diesem wichtigen Thema ermöglichen könnten.“ Das sei nur eine Frage der Finanzierung. Ideen gebe es genug. Und Lars Ruppel gehen sowieso nie die Worte aus.

www.larsruppel.de

Mutterns Hände

Hast uns Stulln jeschnitten

un Kaffe jekocht

un de Töppe rübajeschohm -

un jewischt un jenäht

un jemacht un jedreht...

alles mit deine Hände.

Hast de Milch zujedeckt,

uns bobongs zujesteckt

un Zeitungen ausjetragen -

hast die Hemden jezählt

und Kartoffeln jeschält...

alles mit deine Hände.

Hast uns manches Mal

bei jroßem Schkandal

auch’n Katzenkopp jejeben.

Hast uns hochjebracht.

Wir wahn Sticker acht,

sechse sind noch am Leben...

alles mit deine Hände.

Heiß warn se un kalt.

Nu sind se alt.

Nu bist du bald am Ende.

Da stehn wir nu hier,

und denn komm wir bei dir

und streicheln deine Hände.

Kurt Tucholsky

(1890 – 1935)