SZ +
Merken

Zwischen den Fronten

In der Region Döbeln stießen am Kriegsende vor 70 Jahren Amerikaner und Rote Armee aufeinander. Der Krieg hatte an Zerstörungskraft verloren.

Teilen
Folgen
NEU!

Von Jens Hoyer und Doreen Hotzan

Der Kreis Döbeln gehört im April und Mai 1945 zu den Regionen, in denen die letzten Kämpfe des Zweiten Weltkrieges auf deutschem Boden ausgetragen werden. Aus Richtung Westen kommen die Amerikaner. Von der Elbe zwischen Riesa und Meißen rückt die Rote Armee vor. Dazwischen warten wenige Wehrmachtseinheiten und der Volkssturm, bestehend aus älteren Männern und Hitlerjungen, auf den Feind. Von fanatischem Kampfeswillen ist bei der Bevölkerung nicht viel zu spüren. Stattdessen machen sich Angst und Fatalismus breit. Die Gerüchteküche brodelt so stark, dass Döbelns Oberbürgermeister am 22. April davor warnt, Gerüchte weiterzuverbreiten.

Der Elektrikermeister Herbert Näcke (Foto) hatte am 6. Mai 1945 Verhandlungen mit den anrückenden Russen aufgenommen. Entschlossene Männer bauten unter Leitung des ehemaligen Stadtrates Karl Krötel Panzersperren in der Dresdner-, der Ziegel- und Oschatzer
Der Elektrikermeister Herbert Näcke (Foto) hatte am 6. Mai 1945 Verhandlungen mit den anrückenden Russen aufgenommen. Entschlossene Männer bauten unter Leitung des ehemaligen Stadtrates Karl Krötel Panzersperren in der Dresdner-, der Ziegel- und Oschatzer
Das Gelände an der alten Schießanlage in den Klostergärten, heute Kletterparcours und Mountainbikestrecke, wurde im April 1945 zum Schauplatz einer Tragödie. Der Fleischermeister Albert Wünsch wurde hier wegen Fahnenflucht erschossen. Foto: D. Thomas
Das Gelände an der alten Schießanlage in den Klostergärten, heute Kletterparcours und Mountainbikestrecke, wurde im April 1945 zum Schauplatz einer Tragödie. Der Fleischermeister Albert Wünsch wurde hier wegen Fahnenflucht erschossen. Foto: D. Thomas

In Döbeln ist vom Feind noch nichts zu sehen. Nur jenseits der Zschopau sind Patrouillen der Amerikaner im Waldheimer, Harthaer und Leisniger Raum unterwegs. Am 20. April wird Reinsdorf besetzt, zwei Scheunen werden durch Beschuss zerstört. Einen Tag später kommt es zu Kämpfen bei Brösen, bei denen ein amerikanischer Panzer abgeschossen wird. Die Amerikaner beschießen den Ort mit Artillerie und richten Schäden an den Häusern an. Die Bewohner haben sich in die Keller geflüchtet. Am 22. April wird die Fischendorfer Brücke gesprengt, um den Amerikanern das Vorrücken zu erschweren.

Bei Hartha hat sich der sogenannte Werwolf, fanatisierte junge Männer unter Führung eines Offiziers, in einem Wald bei Steina eingegraben und terrorisiert die Bevölkerung, die sich ergeben will. Am 20. April 1945 erschießen wahrscheinlich Angehörige des „Werwolf“ den Harthaer Fabrikant Arthur Möbius, weil dieser seinem Ärger über den sinnlosen Kampf Luft machte. Einige Tage später wird ein Panzerfahrzeug der Amerikaner in Hartha zerstört und die Besatzung getötet. Die Amerikaner antworten darauf mit einer stundenlangen Beschießung der Stadt, bei der zwei Menschen umkommen und mehr als 300 Häuser beschädigt werden.

Die Verbindungen in Richtung Döbeln sind unterbrochen, Brücken gesprengt, Panzersperren errichtet. Vorratslager werden geöffnet und Lebensmittel und Zigarren an die Bevölkerung ausgegeben. So können sich die Leute kiloweise Zucker aus der Zuckerfabrik Döbeln holen. Es kommt auch zu Plünderungen, etwa in der Schokoladenfabrik an der Reichensteinstraße.

Man bereitet sich auf die Verteidigung der Stadt vor. Wer nicht mitspielt, gerät in Lebensgefahr. Am 23. April wird der Fleischermeister Albert Wünsch am Eichberg nach einer Denunziation wegen Fahnenflucht standrechtlich erschossen. Amerikanische Kampfflieger greifen auf den Bahnstrecken und im Hauptbahnhof Züge an und zerschießen die Lokomotiven. Es gibt dabei Tote. Ein Haus an der Dresdner Straße wird zerstört, als es von einer Bombe getroffen wird.

Am 6. Mai stehen die Russen vor Döbeln, nachdem es bei Ostrau noch Kämpfe gegeben hatte. Der Oberbürgermeister ist getürmt. Ein paar mutigen Männern ist es zu verdanken, dass Döbeln als „Goldene Stadt“ fast ohne Zerstörungen bleibt. Einer davon ist Herbert Näcke. Der Elektrikermeister hat seine Erlebnisse vom 6. Mai in einem Manuskript mit dem Titel „Schicksalsstunden der Stadt Döbeln“ festgehalten. Das 27-seitige Dokument wird im Stadtarchiv aufbewahrt. Darin beschreibt der Elektromeister, dass sich in ihm seit 1943 Widerstand gegen den Krieg regte. Er druckt heimlich Flugblätter und bringt diese in Umlauf. Seine Gedanken kreisen ständig um die Frage: „Wie kann ich Döbeln vor der unausbleiblichen Zerstörung bewahren?“

Am 6. Mai 1945 sieht Herbert Näcke seine Chance gekommen. Auf einem Motorrad fährt er nach Großbauchlitz in Richtung der näher kommenden Russen. Diese will der Döbelner davon überzeugen, dass die Stadt kapituliert. Doch die Verhandlungen gestalten sich schwieriger als gedacht.

So lernt Herbert Näcke zwar einen russischen Dolmetscher kennen, der ihn auch direkt zu den russischen Truppen führt. Aber der erste Offizier, dem er sein Anliegen vorträgt, lehnt dieses ab. „Schließlich führte mich der Dolmetscher in Richtung Zschepplitz zu einem anderen Offizier, dem ich vorgestellt wurde. Er hörte uns zwar höflich an, aber verwies mich an den Abschnittskommandanten, den wir bald darauf trafen. Nun trug ich zum dritten Mal meine Bitte vor. Auch zeigte ich ihm meine zuletzt verbreiteten Flugschriften“, schildert Herbert Näcke in seinem Manuskript. Nach einigem Hin und Her habe ihn der Abschnittskommandant gefragt, ob er dafür garantieren könne, dass sie auf der Fahrt zum Döbelner Rathaus nicht beschossen werden. „Ich antwortete dem Offizier: ‚Das ist natürlich meinerseits nicht möglich. Es gibt immerhin auch bei uns noch Fanatiker. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass vereinzelte Angehörige der verhetzten Hitlerjugend noch im letzten Augenblick zur Waffe greifen werden.‘“

Daraufhin macht er dem Kommandanten den Vorschlag, auf seinem Motorrad als Parlamentär mit der weißen Fahne vorauszufahren. „Sollte ein Beschuss einsetzen, so bin ich ihm als erster ausgesetzt!“ Der Offizier ist jedoch anderer Meinung. „Er ließ mir mitteilen, es sei wünschenswert, wenn ich auf der Fahrt zur Stadt mit im Wagen der russischen Offiziere Platz nehmen würde“, schildert Herbert Näcke.

Wenig später sieht er seine Bemühungen gefährdet. „Ausgerechnet in dem Augenblick, wo wir zur Stadt fahren wollten, meldete ein Spähtrupp, dass in südlicher Richtung drei deutsche Panzer und ein Panzerspähwagen gesichtet worden seien! Ausgerechnet in dieser wichtigen Minute!“ Diese Meldung bringt das Vorhaben ins Wanken. Herbert Näcke erinnert sich: „Sofort stiegen bei den russischen Offizieren wieder große Bedenken auf. Sofort kam ihre Bereitschaft wieder ins Stocken und ihr Misstrauen erwachte wieder mit einem Schlag. Ich musste alle meine Beredsamkeit aufbieten, ehe ich ihren Argwohn zerstreuen konnte. Es war nicht leicht, aber schließlich gelang es doch.“

Gemeinsam fahren sie in die Stadt. Das Eintreffen in Döbeln schildert Herbert Näcke wie folgt: „Wie ein Lauffeuer ging es durch die Häuser: ‚Die Russen sind da!‘ Fenster wurden aufgerissen, erschrockene Frauen beugten sich heraus, aber dann begannen sie ebenfalls, uns stürmisch nachzuwinken. Wir fuhren weiter, über den Niedermarkt und durch die Fronstraße bis vor das Rathaus, wo wir neben dem Schlegelbrunnen haltmachten.“

Da das Rathaus verschlossen gewesen war, seien sie um dasselbe herum zur Polizeiwache gegangen. Dort erkundigt sich Herbert Näcke nach dem Oberbürgermeister und nach Polizeihauptmann Berger. „Wie vorauszusehen, waren beiden nicht mehr anwesend. Nur Stadtrat Röher konnte aus seinem Dienstzimmer herbeigeholt werden.“

Anschließend beginnen im Zimmer 7 die denkwürdigen Verhandlungen. Der Kommandant gab die erste Verordnung bekannt, die schon kurze Zeit danach in der Druckerei Thallwitz gedruckt und umgehend überall angeheftet wurde, beschreibt der Döbelner in seinem Manuskript. Zudem legt der Kommandant die kommissarische Verwaltung der Stadt in die Hände von Stadtrat Röher und Herbert Näcke, wie aus dessen Aufzeichnungen zu entnehmen ist. „Dann verabschiedete er sich durchaus herzlich und kameradschaftlich von uns.“

Den Russen eilt nach den Gewaltexzessen im Osten unter der Zivilbevölkerung ein schrecklicher Ruf voraus. Frauen und Mädchen werden versteckt, um sie zu schützen. Es wird von Vergewaltigungen und Plünderungen durch Rotarmisten berichtet, allerdings gibt es auch Bemühungen der Offiziere, die Truppe zu disziplinieren. Die Angst ist riesig. Ganze Familien scheiden freiwillig aus dem Leben. Als die Russen in Döbeln einmarschierten, soll es noch am selben Tag zehn Selbstmorde gegeben haben.

Letzte Kämpfe in Roßwein

Die deutschen Einheiten haben sich in Richtung Roßwein zurückgezogen und besetzen die Talhöhen um Etzdorf. Beim Einrücken in Roßwein werden die Russen von Hitlerjungen beschossen. Ein paar Hausdächer werden bei der Schießerei durchlöchert. Auch von Etzdorf her setzt Beschuss ein. Die Russen antworten mit Kanonen. Am 7. Mai ist auch Roßwein von den Russen besetzt. Sie rücken an diesem Tag auch in Waldheim ein, das die Amerikaner einige Tage vorher nur erkundet hatten. Sie schießen das Tor zum Gefängnis auf und befreien die Gefangenen. Es herrschen bald chaotische Zustände, eine Gefangenenwärterin wird gelyncht. Kriminelle strömen in die Stadt, plündern und randalieren. Einige landen bald wieder im Gefängnis, wo ein Teil des Personals weiterhin Dienst tut.

Am 9. Mai rückten die Russen schließlich auch in das bis dahin von den Amerikanern kontrollierte Hartha ein. Einen Tag zuvor hatte das Russische Oberkommando das Ende des Krieges bekannt gegeben.

Quellen: Stadtarchiv Döbeln; Matthias Wolf, „Der Landkreis Döbeln im Jahr 1945“; Chronik 2000