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Pirna: Auf Gefechtsstand im Landratsamt

Ihre Panzer haben sie gegen Telefonhörer getauscht: Soldaten helfen dem Krisenstab in Pirna. Besuch in der Schaltzentrale des Anti-Corona-Kampfes.

Von Jörg Stock
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Rauchpause bei der Amtshilfe: Die Bad Salzunger Panzergrenadiere Jens Lorkowski (vorn) und Marcus Bey vor ihrem Gefechtsstand auf der alten Festung Sonnenstein, die heute das Landratsamt ist.
Rauchpause bei der Amtshilfe: Die Bad Salzunger Panzergrenadiere Jens Lorkowski (vorn) und Marcus Bey vor ihrem Gefechtsstand auf der alten Festung Sonnenstein, die heute das Landratsamt ist. © Daniel Schäfer

Das Türschild ist mit olivgrünem Panzertape angeklebt. Ein sicheres Zeichen für die Anwesenheit von Truppe. Hier liegt der "GefSt", also der Gefechtsstand. Pandemie ist auch eine Art Krieg. Heute haben sie drüben im Krisenstab 25 Tote an die Lagewand geschrieben. Hauptfeldwebel Jens Lorkowski unterstützt mit seinen Leuten die Gegenwehr. Ohne Panzer, denn die nützen nichts gegen Viren. Computer und Telefon sind die neuen Waffen. Auftrag ist Auftrag, sagt er. "Wir können alles!"

Vom Schützenpanzer auf die Bastion

Der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge kämpft mit der vierten Corona-Welle. Die Kreisverwaltung auf dem Pirnaer Sonnenstein ist der Kopf dabei. Hier laufen alle Fäden zusammen, hier wird die Verteidigung organisiert. Von den rund eintausend Mitarbeitern haben knapp vierhundert irgendwas mit Corona zu tun. 25 Bundeswehrsoldaten helfen dem Amt.

Hauptfeldwebel Lorkowski führt in Pirna den Amtshilfe-Einsatz von vierzehn Mann, Panzergrenadiere aus Bad Salzungen, Thüringen. Sie sind im Kerngeschäft der Pandemiebekämpfung tätig: Infizierte in Quarantäne schicken und Kontakte nachverfolgen. Ein Teil der Truppe sichtet die Positiv-Meldungen der Labore, der andere ruft die Betroffenen an.

Kleiner Raum, große Aufgabe: Im Pirnaer Krisenstab des Landkreises laufen alle Fäden der Pandemiebekämpfung zusammen.
Kleiner Raum, große Aufgabe: Im Pirnaer Krisenstab des Landkreises laufen alle Fäden der Pandemiebekämpfung zusammen. © Daniel Schäfer

Der Gefechtsstand ist eigentlich ein kleiner Beratungsraum. Aber mit dem wohl größten Balkon. Lorkowski kann vom Schreibtisch direkt aufs Dach des Mittleren Werks treten, eine doppelstöckige Kanonenstellung aus dem 17. Jahrhundert. Lorkowski ist normalerweise Kommandant eines Schützenpanzers. Die Trennung kann er verschmerzen. Der Panzer ist gerade zur Durchsicht. Auf Dauer wäre die Verwaltungsarbeit aber nichts für ihn und seine Leute. "Unsere Aufgabe ist das Kämpfen."

Landkreis hat mit die meisten Soldaten

Seine Kampfaufträge erhält der Hauptfeldwebel jetzt von Kai Ritter-Kittelmann. Der 35-jährige Freitaler leitet das Referat Katastrophenschutz und zurzeit auch den Corona-Krisenstab des Landkreises. Er, der selber zwölf Jahre gedient hat, ist dankbar für den Beistand der Armee. Eine verlässliche Größe, die man auch in Schichtsysteme einbauen könne. Soldaten fragen wenig und handeln schnell. "Sie sind sehr lösungsorientiert."

Die Bundeswehr setzt derzeit 540 Kräfte in Sachsen ein, 62 davon in der Sächsischen Schweiz und im Osterzgebirge. Das ist Platz zwei unter allen sächsischen Landkreisen, hinter Görlitz. Die Mehrzahl hilft in den Kliniken Sebnitz, Pirna und Freital bei der Patientenbetreuung. Es sind Erfahrungen fürs Leben, die die Soldaten dort machen, sagt Ritter-Kittelmann, einschließlich Konfrontation mit dem Tod. Der Wahlspruch der Truppe "Wir dienen Deutschland" bekomme dieser Tage ganz neuen Sinn.

Zu Problemen sagt er am liebsten Herausforderung: Stabschef Kai Ritter-Kittelmann moderiert die tägliche Lagebesprechung.
Zu Problemen sagt er am liebsten Herausforderung: Stabschef Kai Ritter-Kittelmann moderiert die tägliche Lagebesprechung. © Daniel Schäfer

Wenn die Zeiger auf zwei Uhr nachmittags rücken, steht Kai Ritter-Kittelmann ein paar Treppen über den Grenadieren auf seiner eigenen Kommandobrücke: im Krisenstab. Ein gutes Dutzend Computerschirme im Quadrat, Zahlenkolonnen an den Wänden, in der Mitte der "Corona-Weihnachtsbaum", behängt nicht nur mit Kugeln, sondern auch mit Spritzenkanülen und kleinen Glasfläschchen, die Impfstoffampullen ähneln.

Der Krisenstab ist sieben Tage die Woche aktiv. Jeden Tag um zwei ist Stabsbesprechung. Die Verantwortlichen kommen zum Rapport. So weiß jeder, was der andere macht, sagt der Stabschef, "und wir können zahnradmäßig die Dinge beackern."

Bugwelle unbearbeiteter Fälle ist abgebaut

Was dabei allgegenwärtig ist: Zahlen. Aber nur eine Zahl auf der Lagewand ist rot geschrieben: 567. Das sind die ans RKI gemeldeten neuen Positivfälle. Wenn er sich die Werte der letzten Tage anschaut, weiß Ritter-Kittelmann: Die Inzidenz von 1031,8 wird morgen unter die Tausend gefallen sein.

Die Inzidenzen lagen Anfang Dezember etwa doppelt so hoch, bei über zweitausend. Zeitweise war der Landkreis deutschlandweit spitze. Wie hat sich der Stabschef mit diesem Rekord gefühlt? Er konnte damit leben sagt er, in dem Wissen, dass seine Zahlen wenigstens stimmten. Er fragt sich manchmal, ob die der anderen gestimmt haben. "Wir können eine saubere Lage-Einschätzung machen und Entscheidungen treffen."

Ein kleiner Teil der Lagewand im Stabsquartier. Nur wenn die Zahlen stimmen, kann das Lagebild realistisch ausfallen.
Ein kleiner Teil der Lagewand im Stabsquartier. Nur wenn die Zahlen stimmen, kann das Lagebild realistisch ausfallen. © Daniel Schäfer

Mitte November war das noch anders. Das Amt wurde von der Masse eintreffender Positivtests förmlich überrollt. Eine riesige Bugwelle unbearbeiteter Fälle habe sich aufgetürmt, sagt Ritter-Kittelmann, die zeitweise im vierstelligen Bereich lag. Heute sei man beim Abarbeiten "einigermaßen tagesaktuell". Wer heute positiv getestet werde, erhalte in der Regel morgen den Anruf vom Amt und nach drei Tagen seinen Quarantäne-Bescheid.

Bürgertelefon ist chronisch überlastet

Gelungen sei das durch optimierte Datenerfassung, sagt der Stabschef, und durch die "Operation Kraftakt". Dabei habe man noch einmal hundert Verwaltungsmitarbeiter an die Corona-Front geworfen, um Menschen anzurufen, Quarantäne auszusprechen, aber auch, um Fragen zu beantworten, sich Sorgen anzuhören. Das Amt ist der Dienstleister des Bürgers, sagt Ritter-Kittelmann. "Wir dürfen den Kontakt nicht verlieren."

Zum Kontakt halten ist vor allem das Bürgertelefon da. In der Stabsbesprechung wird regelmäßig Bilanz gezogen. Heute: 463 Anrufe, davon 261 angenommen. Das heißt: Gute vierzig Prozent kamen nicht durch. Ritter-Kittelmann bedauert das. "Wir wissen, dass wir nicht für alle da sein können."

Der Corona-Weihnachtsbaum des Stabs mit situationsbezogener Deko: Neben Engeln und Sternen dienen auch Spritzenkanülen als Schmuck.
Der Corona-Weihnachtsbaum des Stabs mit situationsbezogener Deko: Neben Engeln und Sternen dienen auch Spritzenkanülen als Schmuck. © Daniel Schäfer

Fürs Bürgertelefon hat er zehn Telefonisten am Start. Stressresistent genug für Wutbürger müssen sie sein, und zugleich empathisch genug für die Besorgten und Verzweifelten. Das kann nicht jeder, sagt er. Er würde gern mehr Telefonisten einsetzen. Aber es fehlt schlicht am Platz. Jeder freie Winkel im Amt ist schon besetzt mit Krisenbearbeitern. Der Kreistagssaal wäre die letzte Reserve. Dort ist gerade Blutspende.

Auch wenn nicht alles klappt, so doch vielleicht das Wichtigste: Die Inzidenzkurve scheint zu sinken. Ebbt die vierte Welle ab? Kai Ritter-Kittelmann scheut Prognosen. Wenn er die Voraussagen bedenkt, fehlt ihm noch ein bisschen vom Weltuntergang. Für Hauptfeldwebel Lorkowski in seinem Gefechtsstand ist klar: Er wird bald wieder auf seinen Panzer steigen. Übungsschießen in der Lüneburger Heide. Pandemie hin oder her, abgesagt wird nichts. "Der Terminkalender ist voll."