„Kultur und Isolation passen nicht zusammen“

Bislang wird die Corona-Krise vor allem unter gesundheits- und ordnungspolitischen Gesichtspunkten gesehen. Aus dem Blick ist dabei das geraten, was wir im weitesten Sinne unter Kultur verstehen. Frau Wiedemann, was würden Sie demjenigen erwidern, der behauptet, dass Kultur genauso unverzichtbar für die Gesellschaft ist wie Gesundheit und Wirtschaft?
Dem würde ich antworten, dass er recht hat. Natürlich muss jeder selbst entscheiden, was ihm wichtig ist. Nehmen Sie ein Extrembeispiel - der Einsiedler im Wald. Der kann auf vieles verzichten, der braucht keinen Strom, keinen Fernseher, kein Handy, keine Politik, keinen Supermarkt und kein Restaurant. Aber, das ist nicht das Leben, das die allermeisten Menschen leben wollen. Man darf Gesundheit, Wirtschaft und Kultur nicht isoliert betrachten, es gehört alles zusammen. Deswegen hat mich von Anfang an dieses Wort systemrelevant gestört - wer und was ist relevant?
Die Dauerschließung vieler Kulturstätten hat dazu geführt, dass Ersatz gesucht wurde. Wer nicht mehr ins Kino gehen kann, weicht auf Internetplattformen aus, wer nicht mehr ins Theater gehen kann, schaut sich Aufführungen auf Video an, und Konzerte kann man sich auch ins Wohnzimmer holen. Also, wo ist das Problem?
Das Problem ist, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Das heißt, dass er sich austauchen will, unter seinesgleichen sein will, er will sehen und gesehen werden, will sich über das Gesehene, das Erlebte austauschen. Das kann man in den eigenen vier Wänden nur bedingt machen. Deshalb hat Kultur für mich eine ganz wichtige soziale Komponente, die zurzeit natürlich unterbunden ist.
Noch einmal nachgefragt: Was ist an Kultur als Gemeinschaftserlebnis so wichtig?
Wie es das Wort schon sagt, es geht um Gemeinschaft. Wir haben immer miteinander agiert: Ob wir zusammen gegessen haben, oder ein Familienfest gefeiert haben oder Musik gelauscht haben. Es geht darum, gemeinsam das Leben zu erleben und das miteinander zu teilen - das betrifft Motorradfans genauso wie Opernfreunde. Das einzuschränken, allein zu sein, tut keinem gut, egal, in welcher Position er sich befindet.
Die derzeitige Politik vom Bund über die Länder bis hin zum Landkreis setzt aber auf sogenannte wissenschaftliche Erkenntnisse, auf eine Kultur der Isolation, was hat Kultur dem entgegenzusetzen?
Kultur und Isolation passen einfach nicht zusammen. Wissenschaft ist ja nicht objektiv, sie ist interessengeleitet, oft von wirtschaftlichen Aspekten bestimmt. Weil das Gros der Kultur - vom Verein bis zum Theater - noch nie wirtschaftlich gewesen ist, war man der Meinung, dass man das zurückstellen kann. Für eine gewisse Zeit kann ich da auch mitgehen. Aber auf Dauer funktioniert das nicht. Was die Kultur der Isolation betrifft, so ist sie nicht einmal in den beiden Weltkriegen so weit getrieben worden. Es gab trotzdem Bars und Restaurants und es wurde tanzen gegangen. Alles der Gesundheit unterzuordnen - das reicht auf Dauer nicht. Isoliert zu sein und gesund zu sterben - da stellt sich die Frage, ob das das Leben sein kann.
Gibt es aus Ihrer Sicht etwas, womit die Kultur der Politik helfen könnte, eine gesündere Politik für alle zu machen?
Klare, nüchterne Entscheidungen haben die wenigsten Menschen in der Isolation getroffen. Die haben sie miteinander, gemeinsam gefällt, durch Sich-Kennenlernen, Sich-Austauschen. Das geht nur bedingt im virtuellen Raum, etwa in Videokonferenzen. Damit ist der persönliche, eben der direkte menschliche Kontakt nicht zu ersetzen - damit wären wir wieder bei einem Wesensmerkmal von Kultur. Der menschliche Aspekt lässt sich nicht durch eine App oder einen PC oder Roboter ersetzen. Die Kultur hat schon immer der Politik und auch der Wirtschaft geholfen, das ist vergessen worden. Gemeinsam erlebte Kultur hilft, dass politische Entscheidungen für alle ausgeglichener und gesünder getroffen werden. Ich möchte auch noch mal betonen, dass ich sehr dankbar bin, dass Sachsen den Stellenwert von Kultur schon lange erkannt hat und seit vielen Jahren in die Kulturraumförderung investiert.
Wie stellt sich die jetzige Situation für Sie in Bezug auf das Individuum dar?
Jeder, der jetzt Entscheidungen über uns trifft, erwartet von uns eine gewisse Selbstbestimmung. Und diese ist uns in großen Teilen genommen worden. Also, dass wir nicht mehr selber bestimmen - gehe ich arbeiten oder nicht. Die Kinder dürfen nicht mehr in die Schule gehen und es wird von uns Eltern fremdbestimmt erwartet, dass wir dem gerecht werden. Natürlich muss man sich in einer Gesellschaft Regeln unterordnen, damit diese Gesellschaft auch funktioniert. Aber ich habe als Individuum auch eine Selbstbestimmung, auch ein Gefühl, auf das ich hören kann - was für mich gut und richtig ist. Das kann und sollte auch niemand anders für mich entscheiden. Aber das wird jetzt in großen Teilen gemacht und das zermürbt auf Dauer.
Die Fragen stellte Udo Lemke.