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Ehrenhain Zeithain: War sein Uropa Täter oder Mitläufer?

Ein junger Historiker arbeitete jetzt in der Zeithainer Gedenkstätte. Sein Urgroßvater war für die Hygiene im einstigen Kriegsgefangenenlager zuständig.

Von Jörg Richter
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Der junge Historiker Nils Braune war zum Praktikum im Ehrenhain Zeithain. Hier wollte er auch mehr über seinen Urgroßvater erfahren.
Der junge Historiker Nils Braune war zum Praktikum im Ehrenhain Zeithain. Hier wollte er auch mehr über seinen Urgroßvater erfahren. © Sebastian Schultz

Zeithain. Er überlegt sich jeden Satz ganz genau. So, als wolle er ihn gleich aufschreiben und unterschreiben. Mehrmals verändert er die Wörter - ist sich nicht sicher, ob sie das wiedergeben, was er eigentlich sagen will.

Nils Braune hat im April seinen Master in Zeitgeschichte und Medien abgeschlossen. Der 28-Jährige darf sich jetzt Historiker nennen. "Aber ich bin noch ein bisschen schüchtern, mich so zu bezeichnen", sagt er. Einen Bachelorabschluss für Soziologie, Politikwissenschaften und Geschichte hat er ebenfalls in der Tasche. Doch noch sei er sich unschlüssig, was er damit macht. Er könnte damit in einem Museum anheuern - oder in einem Institut für politische Bildung oder bei einer Nichtregierungsorganisation.

Nach seinem Studium in Wien hat sich er etwas Zeit gelassen, um sich darüber klar zu werden. Ungenutzt wollte er sie aber nicht verstreichen lassen. Deshalb bewarb er sich für ein zweimonatiges Praktikum in der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain.

Ein strebsamer Mediziner

Dass der gebürtige Pfaffenhofener, der in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen ist, sich ausgerechnet für den kleinen Ort in Sachsen entschied, hat seinen Grund. Sein Urgroßvater war hier tätig - während des Zweiten Weltkrieges, als es hier eines der größten Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht gab. Gedenkstättenleiter Jens Nagel vermutet, dass es sogar das größte seiner Art in Deutschland war.

Rund 30.000 ausländische Soldaten - die meisten stammten aus der ehemaligen Sowjetunion - starben hier. Als historisch gesichert gilt, dass Hunger und Krankheit die Haupttodesursachen waren. Die schlechten hygienischen Bedingungen taten ihr Übriges dazu. - Einer, der dafür zuständig war, war Nils Braunes Urgroßvater Paul Ignatz Konitzer.

"Mein Opa Detlef hat mir irgendwann von ihm erzählt. Da war ich 19 oder 20", erinnert sich der junge Mann. In der Familie ist bekannt, dass Konitzer aus Pommern stammte. "Er soll ein unglaublich strebsamer Mediziner gewesen sein", sagt Nils Braune. Ein gewisses Geltungsbedürfnis dürfte ihm wohl auch nicht abzusprechen sein. Wegen der Karriere wechselte er nach Dortmund, später nach Magdeburg, wo der Sozialdemokrat unter seinem Parteigenossen und späteren Berliner Oberbürgermeister Fritz Reuter als Gesundheitsdezernent arbeitete. - Bis zur Machtergreifung der Nazis 1933.

So sah das Kriegsgefangenenlager Zeithain von außerhalb aus.
So sah das Kriegsgefangenenlager Zeithain von außerhalb aus. © VVN/BdA Leipzig; Stiftung Sächs
Sowjetische Kriegsgefangene müssen dieses Schild halten, auf dem sie als "Stalins Helden" verspottet werden.
Sowjetische Kriegsgefangene müssen dieses Schild halten, auf dem sie als "Stalins Helden" verspottet werden. © VVN/BdA Leipzig; Stiftung Sächs
Im ersten Winter des Zeithainer Kriegsgefangenenlagers 1941/42 starben viele Insassen, weil noch nicht genügend Baracken vorhanden waren.
Im ersten Winter des Zeithainer Kriegsgefangenenlagers 1941/42 starben viele Insassen, weil noch nicht genügend Baracken vorhanden waren. © Archiv der Gedenkstätte Ehrenha

"Da kam er wie viele andere Sozialdemokraten in ein Schutzhaftlager", weiß Jens Nagel. Der Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain hat sich mit dem Leben und Wirken von Paul Ignatz Konitzer beschäftigt und auch darüber einen Beitrag für das Fachbuch "Zeithain - Gedenkbuch sowjetischer Gefangener" geschrieben.

Als Konitzer wieder frei war, zog er nach Dresden, wo er als Kassenarzt arbeitete und sich vor den Gängelungen der Nazis in Sicherheit wähnte. Doch vier Tage vor Kriegsbeginn wurde er als Oberfähnrich eingezogen. "Sozialdemokraten galten als Unsicherheitsfaktor und mussten als Erste mit in den Krieg", sagt Nagel.

Irgendwie muss es Konitzer gelungen sein, seine Vorgesetzten bei der Wehrmacht davon zu überzeugen, als Mediziner im Wehrkreiskommando IV von Nutzen zu sein. Das hatte seinen Sitz in Dresden, wo Konitzer seiner Familie nah sein konnte. Er wurde im Februar 1941 beratender Hygieniker. In dieser Position war er auch für das Kriegsgefangenenlager in Zeithain verantwortlich.

"Er war für den gesamten Wehrkreis verantwortlich und auch ab und zu hier", so Nils Braune. Sein Urgroßvater habe wesentlichen Anteil an den schlechten hygienischen Verhältnissen im Lager gehabt, die zum Tod Tausender Kriegsgefangener führten. "Das ist mir bei meinem Praktikum in Zeithain bewusst geworden", sagt der junge Historiker. Für ihn steht fest, dass einer seiner Vorfahren Täter und nicht nur Mitläufer war.

Bei dieser Einschätzung geht Jens Nagel nicht so hart ins Gericht mit Braunes Urgroßvater. "Er hatte keine Kommandogewalt", sagt der Zeithainer Gedenkstättenleiter. Sicherlich habe Konitzer in der Wehrmacht Karriere gemacht, wurde viermal befördert und war zum Schluss Oberstabsarzt, was einem Major gleichkam. "Aber er war einer von sechs Spezialisten, die dem Generalstabsarzt berieten. Konitzer hatte Einfluss, aber er war kein Befehlshaber."

Unter rechtsstaatlichen Bedingungen sei es heute schwer, ihn wegen eines Kriegsverbrechens anzuklagen, so Nagel. Da sei Konitzer einer von vielen Soldaten, die Befehle ausführten. Strafrechtlich sei er ein Mitläufer, moralisch ein Täter.

Nach Stauffenberg-Attentat abgesetzt

Nach dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler im Juli 1944 wurde Konitzer als beratender Hygieniker im Wehrkreiskommando IV abgesetzt. Nagel glaubt, dass dies mit seiner SPD-Vergangenheit zusammenhing. Außerdem erweckte der zweite Vorname Ignatz - ein Name, der unter deutschen Juden sehr beliebt war - Zweifel bei den Machthabern.

Nach dem Krieg machte Konitzer wieder Karriere. In der sowjetischen Besatzungszone war der Dresdner Arzt Präsident der deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen. Doch im Februar 1947 wurde er festgenommen und kam in ein Dresdner Gefängnis, wo er über seine Mitarbeit in der Wehrmacht verhört wurde. Die Mitschrift dieses Verhörs ist ein bedeutendes Zeitzeugnis über die Zustände im Zeithainer Kriegsgefangenenlager.

Nils Braune hat es mehrmals durchgelesen. Letztlich brachten ihn diese erhaltenen Aufzeichnungen nach Zeithain. "Es wird einem bewusst, dass Geschichte nichts Fernes ist", sagt der 28-Jährige. "Das fühlt sehr nah an." - Im April starb Paul Ignatz Konitzer im Gefängnis. Bis heute ist nicht geklärt, ob er hingerichtet wurde.