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Rutsch an Pirnas Südumfahrung: Gottleubabrücke wächst um hundert Meter

Es ist der siebte Streich der Brückenschieber. Gewaltige Pressen setzten am Dienstagmorgen fünftausend Tonnen Stahl in Marsch.

Von Jörg Stock
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Schiebung überm Sportfeld: Der Rohbau der künftigen Gottleubatalbrücke überquerte am Dienstag das Pirnaer Kohlbergstadion.
Schiebung überm Sportfeld: Der Rohbau der künftigen Gottleubatalbrücke überquerte am Dienstag das Pirnaer Kohlbergstadion. © Marko Förster

Gerold Zimmermann war wohl genauso früh an der Baustelle, wie die Bauarbeiter. Und wenn nichts dazwischen kommt, macht er gemeinsam mit ihnen Feierabend. Verpflegung hat er reichlich dabei, und Geduld auch. Die ist nötig, denn voran geht es in Zeitlupe - mit zwanzig Metern pro Stunde, Maximum. Es nützt ja nichts, sagt Herr Zimmermann. "Wenn man einmal angefangen hat, muss man bleiben."

Mit dem Bau der Gottleubatalbrücke an Pirnas Südumfahrung hat Gerold Zimmermann aus Nentmannsdorf, ehemals Landwirt, jetzt Rentner, nicht direkt zu tun. Seine Werkzeuge sind Kameras. Und die hat er seit dem frühen Morgen auf das graue Stahlband gerichtet, das vom Sonnenstein her schon etwa 700 Meter ins Tal der Gottleuba hinein ragt. Heute wird es erneut verlängert, um fast 120 Meter.

Im Bann der Brücke: Fotoamateur Gerold Zimmermann harrt den ganzen Tag im Gottleubatal aus, um den Vorschub mit der Kamera festzuhalten.
Im Bann der Brücke: Fotoamateur Gerold Zimmermann harrt den ganzen Tag im Gottleubatal aus, um den Vorschub mit der Kamera festzuhalten. © SZ/Jörg Stock

Der 73-jährige Foto-Amateur ist gut gerüstet, das Schauspiel einzufangen. Mit dem Doppelfernglas späht er hinauf auf den 58 Meter hohen Pfeiler 30, das Etappenziel der Brückenschieber, und schaut, was die Mannschaft da oben treibt. Erkennt er ein Motiv, greift er zum Fotoapparat. Eine zweite Kamera hat er auf dem Stativ montiert. Sie löst automatisch aus. Alle 15 Sekunden ein Schuss.

Vom Schneckentempo zum Zeitraffer

Waren schon Volltreffer dabei? "Ich denke doch", sagt er. Die Stunde der Wahrheit kommt daheim, wenn er seine tausend Bilder anschaut. Seine Hoffnung ist, dass er die Aufnahmen zusammensetzen und dann die Brücke statt im Schneckentempo im Zeitraffer wandern lassen kann, für Familie, Kumpels, vor allem natürlich für sich selbst.

Was für den Zaungast ein Zeitvertreib ist, das ist für den Bauoberleiter Ulrich Gawlas ein Meilenstein auf dem Weg zum Megabau Südumfahrung. Von den 3,8 Kilometern, die der Verkehrszug zwischen Autobahn A17 und dem Tor zur Sächsischen Schweiz lang ist, nimmt die Gottleubatalbrücke alleine fast einen ganzen Kilometer ein und wird, nach jetzigem Stand, 136 Millionen Euro kosten.

"Routine ist sowas nie." Bauoberleiter Ulrich Gawlas (r.) beobachtet mit Bereichsleiter Michael Ditter vom Bauherrn Deges den Brückenverschub
"Routine ist sowas nie." Bauoberleiter Ulrich Gawlas (r.) beobachtet mit Bereichsleiter Michael Ditter vom Bauherrn Deges den Brückenverschub © Marko Förster

Verschoben wurde die Brücke schon öfter. Heute ist es das siebte Mal. Kommt da nicht langsam Routine auf? Routine ist sowas nie, sagt Ulrich Gawlas. Man muss mit dem Unerwarteten rechnen. Da geht mal eine Maschine kaputt oder eine Sicherung fliegt raus. Bis jetzt lief zwar alles glatt. Aber der Tag ist noch lang. "Wenn man von Routine spricht, passiert meistens was."

Um das so gut es geht auszuschließen, haben die Bauleute diesen Arbeitsschritt lange vorbereitet. Schon vorigen Freitag war die Aktivierung der Verschub-Anlage abgeschlossen, waren Hydraulik und Messgeräte arbeitsbereit. Am Montag dann wurde alles noch einmal ausprobiert. Bei dem Test wanderte die Brücke bereits zehn Meter voran.

Und nun geht es scharf. Seit früh sieben Uhr ist die Brückenschiebe-Crew, achtzig bis neunzig Leute, in Aktion. Von der Aussichtsplattform am Kohlberg her sehen die Ingenieure in ihren orangen Jacken gespannt zu, wie der Vorbauschnabel, das Führungselement am Brückenanfang, bei Pfeiler 30 andockt - Halbzeit.

"Das Tal aufhübschen." Die Deges-Ingenieure Bernd Urbank (l.) und Bernhard Blümel blicken vom Kohlberg aus auf die Brückenbaustelle.
"Das Tal aufhübschen." Die Deges-Ingenieure Bernd Urbank (l.) und Bernhard Blümel blicken vom Kohlberg aus auf die Brückenbaustelle. © Marko Förster

Auf den Pfeiler ist eine Art Nadelöhr aufgebaut aus sechzig Tonnen Stahl. Da muss der Schnabel rein gefädelt werden. Das ist gar nicht so leicht. Die Vormittagssonne prasselt ungestört auf die Südseite des Brückenrohbaus und heizt ihn auf, während die Nordseite noch kühl wie die Nacht ist. "Da wird aus der Brücke ein Flitzbogen", sagt Ulrich Gawlas.

Brücke biegen mit der Ratsche

So sieht man die Mannschaft auf dem Pfeilerkopf mit Seilzug und Ratsche hantieren. Sie biegt den Flitzbogen wieder gerade. Dann gehen Hydraulikpressen am Kopf des Schnabels in Betrieb und drücken ihn, eine Masse von 120, 130 Tonnen, abwärts, hinein in die gabelartige Führungsvorrichtung.

Das Manöver gelingt. Doch der Brückenstahl dahinter lässt den Betrachter die Stirn kraus ziehen. Über die ganze Distanz bis hin zum Gegenhang vollführt das Metall eine Berg-und-Tal-Fahrt. Zwischen den Pfeilern hat die Konstruktion Hängebäuche, so, als wäre sie gar nicht aus Metall, sondern aus Gummi gemacht.

Phänomen Durchbiegung: Seitlich betrachtet, wirkt die Brückenkonstruktion fast wie eine Achterbahn. Die Wölbungen glätten sich später durch die Last der Aufbauten.
Phänomen Durchbiegung: Seitlich betrachtet, wirkt die Brückenkonstruktion fast wie eine Achterbahn. Die Wölbungen glätten sich später durch die Last der Aufbauten. © Marko Förster

Keine Panik, sagt Bernd Urbank. Er ist Projekt-Ingenieur beim Auftraggeber, dem bundeseigenen Fernstraßenbauer Deges, und eigens aus Berlin angereist, um den Verschub zu verfolgen. Es handelt sich um das Phänomen der Durchbiegung. Bei den großen Stützweiten der Gottleubatalbrücke fällt es besonders auf, sagt er. "Es sieht dramatisch aus, aber es ist nicht dramatisch."

Dramatisch wäre es, sagt Urbank, wenn die Brücke jetzt gerade erscheinen würde. Dann würde sie später unter der Last der Aufbauten - Fahrbahnplatte, Abdichtung, Kappen, Geländer - durchhängen. Hier aber haben die Ingenieure den Unterbau so berechnet, dass am Ende der Schieberei ein Hängebauch stets auf einer Stütze zum Liegen kommt.

Die Masse des Aufbaus drückt die Bögen, die sich dann nach oben wölben, platt und macht aus der Achterbahn, wenn alles funktioniert, eine gerade Strecke. Und es wird funktionieren, davon ist Bernd Urbank überzeugt. Zwischendurch müssen Bauten nicht immer schön und richtig aussehen, sagt er. "Wichtig ist, dass es am Schluss passt."

"Fast nicht zu sehen." Die neuerlich gewachsene Gottleubatalbrücke von den Höhen über Goes aus betrachtet.
"Fast nicht zu sehen." Die neuerlich gewachsene Gottleubatalbrücke von den Höhen über Goes aus betrachtet. © Marko Förster

Die Parkposition für diesen Tag ist erreicht, wenn der gesamte Schnabel, das sind fünfzig Meter, und zusätzliche acht Meter Brücke den Pfeiler 30 überquert haben. Bis 17 Uhr soll das klappen. Zwei Schübe stehen dann noch aus. Im Sommer, das ist der Zeitplan, wird das gesamte Tal überquert sein.

Überquert von einer Konstruktion, die, so sagt es Bernhard Blümel, Projektleiter für die Südumfahrung bei der Deges, mit ihrer schlanken Statur zu den ambitioniertesten und ehrgeizigsten Bauunternehmungen Deutschlands zählt. Auftrag der Planer sei es gewesen, das Tal nicht zu "versauen", sondern eher zu verschönern. Ob das gelungen ist, wird voraussichtlich Ende 2026, zur Verkehrsfreigabe, endgültig feststehen.