Sachsen
Merken

Drei SZ-Leser erinnern sich an den Umbruch in den 90er-Jahren

Mit dem Ende der DDR und dem Umbruch in den 1990er-Jahren begann für viele Menschen in Sachsen das Leben von vorn. Hier erinnern sich drei Leser der SZ an diese Zeit und erzählen ihre Geschichte.

 10 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
© Thomas Kretschel

Mit dem Ende der DDR und dem Umbruch in den 1990er-Jahren begann für viele Menschen in Sachsen das Leben von vorn. Hier erinnern sich drei Leser der SZ an diese Zeit und erzählen ihre Geschichte.

Keine Chance für Saxobold

Von Bernhard Schawohl, Dresden

Die ersten Bücher, die ich gleich nach der Maueröffnung kaufte, waren das „Bürgerliche Gesetzbuch“ und „Der Verlagskaufmann“. Wie begeistert war ich doch von dem Abschnitt im BGB, wo es um den „ehrlichen Kaufmann“ geht. Das war so recht nach meinem Geschmack: Eine Abrede gilt, das Geschäft wird per Handschlag gültig. Auf den Partner ist Verlass. Gezahlt wird pünktlich.

Wenn ich mich richtig erinnere, war es im Dezember 1989. Auf Initiative der Mittelstandsvereinigung der CDU fand im Dresdner Rathaus eine Gründermesse statt. In dieser Vereinigung waren Unternehmer engagiert, bei denen sich fachliches Können und politisches Handeln aufs Glücklichste miteinander verbanden. Auf einen solchen Typus war ich in der DDR nur selten gestoßen – ich war begeistert. So begeistert, dass ich bei den Wahlen im März 1990 der CDU meine Stimme gab.

Bernhard Schawohl, 72, lebt als Schriftsteller in Dresden. Er studierte u. a. Agrarwissenschaften und Kulturwissenschaften, arbeitete bis 1983 in der Landwirtschaft und wechselte dann in den Kulturbereich.
Bernhard Schawohl, 72, lebt als Schriftsteller in Dresden. Er studierte u. a. Agrarwissenschaften und Kulturwissenschaften, arbeitete bis 1983 in der Landwirtschaft und wechselte dann in den Kulturbereich. © Thomas Kretschel

Bei der Gründermesse traf ich auf Gesprächspartner, die offensichtlich solche Kaufleute waren, wie sie im BGB beschrieben sind: ehrliche Häute. Sie machten mir Mut. Besonders der geschäftsführende Inhaber der Firma Novaconcept, Schorsch. Claus-Peter Schorsch bot an, was ich suchte: einen Partner für den Verlag, den ich gründen wollte.

Kurz darauf vernebelte ich mit meinem Trabi nach fast fünfstündiger Fahrt das reizende Städtchen Kulmbach in Franken. Claus-Peter Schorsch betrieb dort nicht nur eine Druckerei. Novaconcept wollte vor allem Werbetreibenden die Möglichkeiten des Macintosh nahebringen.

Der Rechner war in jener Zeit revolutionär. Daran, was heute jedem Kinde geläufig ist, konnte man sich wirklich begeistern: die Arbeit mit dem Desktop, der wie ein Schreibtisch funktioniert, in dem man Schränke, Akten, Bildarchive anlegen kann. Schorschs erste Worte bei jeder Präsentationsveranstaltung waren immer: „Das ist ein Rechner, der ist so primitiv, dass jeder Manager ihn bedienen kann.“

Veranstaltungen dieser Art fanden zumeist in einem Hotel im herrlichen Fichtelgebirge statt. Die Teilnahme kostete eine für mich horrende Summe. Schorsch lud mich zu einer der Präsentationen ein. Ich glaubte erst, er wolle mich veräppeln. Es war mir unmöglich, so viel Geld aufzubringen; Westgeld schon gar nicht. „Sie sind mein Gast“, zerstreute er meine Bedenken.

Der kleine Bergmann begleitet Kinder durch die sächsische Geschichte und das fiktive Land Montanesien: Mit diesem Konzept startete 1990 die von Bernhard Schawohl gegründete Zeitschrift Saxobold.
Der kleine Bergmann begleitet Kinder durch die sächsische Geschichte und das fiktive Land Montanesien: Mit diesem Konzept startete 1990 die von Bernhard Schawohl gegründete Zeitschrift Saxobold. © Zeichnung: Holger Havlicek,

Bisher hatten ein Grafiker und ich die Dresdner Hefte mit Leimtopf und Schere gestaltet und für den Druck vorbereitet. Jetzt aber war es möglich, Layout, Typografie, ja sogar Bildbearbeitung am Rechner abzuhandeln! Schorsch bemerkte meine Begeisterung. Er bot an, dass ich einen Macintosh bekommen könne. Wenn es eines Tages im Osten Westgeld gäbe und meine Geschäfte liefen, könne ich ihn immer noch in kleinen Raten abbezahlen. So kam der Macintosh nach Dresden. Wahrscheinlich zu dieser Zeit überhaupt der erste …

Mein Ziel war, die Dresdner Hefte in meine neue Dresden Verlag GmbH zu übernehmen. Außerdem wollte ich Bücher zur sächsischen Geschichte herausbringen. Besonders lag mir aber ein Projekt für Kinder am Herzen. Ich engagierte Holger Havlicek als einen der besten Comic-Zeichner, die ich kannte. Er war bis dahin im inzwischen abgewickelten Defa-Trickfilmstudio angestellt und arbeitslos geworden. Gemeinsam entwickelten wir eine Figur mit dem Namen Saxobold.

Der kleine Bergmann begleitet die Kinder durch die sächsische Geschichte von ihren slawischen Anfängen bis heute und bringt ihnen auf verschiedenste Weise ihre Heimat „Montanesien“ näher bringt – nach der Devise „Dunkel der Geschichte Lauf, Saxobold hellt alles auf“. So ähnlich hatte ich es als Kind mit der Zeitschrift Mosaik und den Digedags erlebt.

Buchstäblich am gleichen Tage, da die 25.000 Exemplare der ersten Ausgabe von Saxobold im Frühsommer 1990 die Druckerei in Heidenau verließen, flatterte ein Brief ins Haus. Darin stand, dass es den Postzeitungsvertrieb der DDR ab sofort nicht mehr gebe. Es tue ihnen leid, aus diesem Grunde den vereinbarten Vertrieb der 25.000 Exemplare nicht mehr leisten zu können.

Sogleich nahm ich Verhandlungen mit einer Reihe von Vertriebsgesellschaften auf, die in Dresden, wie überall in der Republik, blitzartig präsent waren. Von Bild bis Spiegel, von Auto-Bild bis zu den St-Pauli-Nachrichten – für keinen Titel gab es ein Problem, in der DDR vertrieben zu werden.

Für meinen Saxobold aber gab es nur nette Worte, eine Tasse guten Kaffees, ein mitleidiges Lächeln und zum Abschied alle guten Wünsche für die Zukunft. So blieb mir nichts übrig: Ich musste im Sommer 1990 Insolvenz anmelden.

Bernhard Schawohl, 1950 in Leipzig geboren, war erster Redakteur der Dresdner Hefte. Soeben erschien sein historischer Roman über den sächsischen Minister Hans Georg von Carlowitz, dem am 18. November ein Kolloquium im Dresdner Stadtmuseum gewidmet ist.

Eine neue Lebensaufgabe

Maria Möbius war bis 1990 Bereichsleiterin Kunst in der Stadtverwaltung Dresden. Die 89-Jährige engagiert sich im Verein Akademiker und Freunde 50plus.
Maria Möbius war bis 1990 Bereichsleiterin Kunst in der Stadtverwaltung Dresden. Die 89-Jährige engagiert sich im Verein Akademiker und Freunde 50plus. © Thomas Kretschel

Von Maria Möbius, Dresden

Trotz aller Freude über die Wiedervereinigung begann für viele Wissenschaftler nach 1990 eine schwere Zeit, ganz gleich, ob sie an der TU Dresden, der Kunsthochschule, Verkehrshochschule oder im Gesundheits- und Bildungswesen tätig waren. Als „Angehörige im öffentlichen Dienst der DDR“ wurden wir als „staatsnah“ eingestuft, zum Teil diskriminiert.

So schrieb zum Beispiel der Publizist Arnulf Baring, die DDR habe fast ein halbes Jahrhundert lang die Menschen verzwergt und ihre Ausbildung verhunzt. „Ob sich heute dort einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Ingenieur oder Arzt, das ist völlig egal: sein Wissen ist auf weiten Strecken völlig unbrauchbar.“

Das habe ich allerdings anders erlebt als Bereichsleiterin Kunst in der Stadtverwaltung Dresden bis 1990. Die Pädagogin Ilse Zogbaum initiierte eine Beratergruppe Intelligenz, die später als Akademiker-Verband firmierte und über 200 Mitglieder hatte. Mit 59 Jahren trat ich dem Verband bei und wurde 1993 in den Vorstand gewählt. Meine guten Kontakte zu den Dresdner Kultureinrichtungen waren mir bei der Organisation vielfältiger Veranstaltungen von Nutzen. Ich hatte eine neue Lebensaufgabe gefunden. Es ist sehr befriedigend, anderen eine Freude zu bereiten. Wir organisierten zum Beispiel Konzerte.

Seit 2014 sind wir ein gemeinnütziger Verein: Akademiker und Freunde 50plus. Unser Motto: „Nicht einsam, sondern gemeinsam in die Zukunft schauen“. Neben sozial- und gesundheitspolitischen sowie staatsbürgerlich-rechtlichen Fragen widmen wir uns wissenschaftlichen Erkenntnissen. Beschäftigen uns mit Literatur, Kunst und Musik als Kraftquell für Geist und Seele. Unterdessen vollende ich bald mein 90. Lebensjahr. Das ehrenamtliche Engagement gibt mir die Kraft, die eigenen Alltagsprobleme zu meistern.